1. Vorgeschichte
Einleitung
Es gibt keine Stadt der Welt, die mich mehr fesselt als Jerusalem. Sie ist eine Stadt, die mehr als 3500 Jahre alt ist; eine der ältesten Städte, die wir kennen, eine Stadt, die den größten Reichtum und auch das tiefste Elend gekannt hat ‑ vernichtet und stets wieder aufgeblüht, zertreten und doch wieder aufgelebt, eine Stadt, die gerade in diesen Jahren im Mittelpunkt des Weltinteresses steht wegen der Wunder, die das alte jüdische Volk dort vollbringt. Eine Stadt, wo sich uralte Kulturen begegnen, wo sich seit Jahrhunderten die großen Handelsstraßen kreuzen, eine Stadt, die wirklich auf dem Nabel der Erde liegt (Hes 38, 12), die wirklich inmitten der Nationen gesetzt ist und Länder rings um dieselbe her (Hes 5, 5). Aber nicht das hohe Alter oder die interessante Geographie dieser Stadt ziehen mich in erster Linie an, auch nicht die Rolle, die sie in der Weltgeschichte oder in der gegenwärtigen politischen Entwicklung spielt. Was mich vor allem fesselt, ist der besondere Platz, den diese wunderbare Stadt in der Heilsgeschichte Gottes mit dieser Welt, in den Plänen und Ratschlüssen des Allmächtigen einnimmt. Der Schauplatz, auf dem sich diese Pläne und Ratschlüsse entfalten, ist die Erde ‑ aber alles wird von dem Gebiet aus gesehen, das nach Gottes Gedanken der Mittelpunkt der Erde ist: Palästina mit dem herrlichen Mittelpunkt Jerusalem, der Stadt Gottes (Ps 48, 1). Wer die Bibel, und besonders die Propheten, studiert, wird bald feststellen, daß diese Stadt wirklich den Mittelpunkt der Wege Gottes bildet, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch besonders in der Zukunft. Und gerade in der Zeit, wo sich Jerusalem auf die letzten tiefgreifenden und erschütternden Ereignisse vorbereitet, die über sie kommen werden, sollten wir mit dem Platz vertraut sein, den Gott dieser Stadt zugedacht hat. Mehr denn je haben Christen in unseren Tagen Einsicht nötig in die Prophetie, um zu begreifen und praktisch zu verwirklichen, was ihre Stellung ist hinsichtlich der Welt, der Juden und des jüdischen Staates, der Entwicklung in der Christenheit, der Zukunft der Versammlung, der Erwartung des sehr nahen Kommens des Herrn, der dringenden Notwendigkeit der Verkündigung des Evangeliums und eines geheiligten Lebens. Oder anders ausgedrückt: wir müssen unsere Aufmerksamkeit im Besonderen auf zwei Dinge lenken: erstens auf den wahren Charakter der Versammlung Gottes und auf die Art und Weise, wie sie sich in der heutigen Zeit offenbaren soll; das steht im Zeichen des neuen Jerusalem (Offb 21, 2. 9. 10) und des himmlischen Jerusalem, das droben ist (Hebr 12, 22; Gal 4, 26), und zweitens auf den wahren Charakter dieser Welt, auf die Zukunft, der sie entgegengeht und worin Israel eine zentrale Stellung einnehmen wird. Hierin ist dann der Mittelpunkt, um den sich alles drehen wird, das alte, irdische Jerusalem, das auf der Erde ist (vgl. Gal 4, 24‑26).
So wollen wir uns nun mit diesem Jerusalem beschäftigen als dem Ort, auf den sich die Wege Gottes mit der Erde konzentrieren. Da uns in der Bibel die Wege Gottes beschrieben werden, wollen wir uns auch fast ausschließlich damit beschäftigen, was die Heilige Schrift uns über diese Stadt mitteilt. Vergangenheit und Zukunft gehören zusammen ‑ wir können das eine nur aus dem anderen gut verstehen. In unseren Betrachtungen müssen wir deshalb zu dem Anfang zurückgehen, den uns die Bibel von dieser Stadt nennt, um dann sehr kurz einigen Hauptpunkten der Geschichte dieser Stadt nachzugehen, die wesentlich sind, um ihre Zukunft zu begreifen. Die Zukunft dieser Stadt läuft auf ein großes Endziel hinaus: die Regierung des großen Königs in Seiner Stadt (Mt 5, 35) in den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von welchen Gott durch den Mund Seiner heiligen Propheten von jeher gesprochen hat (Apg 3, 21). Erst dann wird Jerusalem wirklich „die Stadt des Friedens“ sein, wenn der Friedefürst in ihrer Mitte residiert in Recht und Gerechtigkeit (Jes 9, 6. 7).
Älteste Geschichte der Stadt
Es ist sehr bezeichnend, daß wir zu Beginn der Geschichte Jerusalems zwei deutliche Vorbilder von dem Herrn Jesus finden, die bereits auf die glorreiche Zukunft dieser Stadt hinweisen. Als erstes sehen wir in 1. Mose 14 die Person Melchisedeks, des Königs von Salem (dem späteren Jerusalem), der, dem Sohn Gottes verglichen, Priester auf immerdar ist (Hebr 7, 1‑3). Er ist ein Vorbild auf den Herrn Jesus als König und Priester, wie Er das vor allem im Tausendjährigen Friedensreich sein wird (Sach 6, 13; Ps 110, 4). Das zweite, was wir über Jerusalem finden, steht in 1. Mose 22, wo Abraham seinen Sohn Isaak im Land Morija auf einem der Berge opferte; und da wir wissen, daß Salomo den Tempel in Jerusalem auf dem Berg Morija baute, muß also auch dieses Ereignis in dem späteren Jerusalem stattgefunden haben. So sehen wir am Anfang der Geschichte dieser Stadt einen Hinweis auf die Regierung des Herrn, aber auch auf das schreckliche Ereignis, wenn der Messias außerhalb der Tore Jerusalems an ein Kreuz genagelt werden würde, ein Ereignis, das die Zukunft und das Schicksal Jerusalems mehr als alles andere bestimmt hat. Danach finden wir sehr wenig über Jerusalem. Die Stadt hieß lange Zeit „Jebus“ und wurde von einem kanaanitischen Volksstamm, den Jebusitern, bis zu dem Augenblick bewohnt, als David diese Stadt einnahm und zu seiner Residenz machte. Seitdem trägt die Stadt den Namen „die Stadt Davids“. Er erweiterte sie gewaltig und befestigte sie, so daß Jerusalem wirklich die würdige Hauptstadt Israels wurde. Ein äußerst bedeutender Zeitabschnitt brach an, als David beschloß, die Bundeslade nach Jerusalem zu bringen. Ich will hierauf etwas näher eingehen, weil auch dieses Ereignis große Bedeutung in Verbindung mit der Heilsgeschichte Gottes hat und ebenfalls ein Vorbild auf zukünftige Ereignisse in Verbindung mit Zion ist.
Als Gott Israel durch die Wüste leitete, schenkte Er dem Volk die Stiftshütte, um in der Mitte Seines Volkes zwischen den Cherubim auf dem Versöhnungsdeckel, der auf der Lade war, wohnen zu können (2. Sam 7, 6). Die Stiftshütte war jedoch ein Zelt und kein fester Wohnort, also beweglich und dem Umherziehen des Volkes angepaßt. Deshalb kündigte Gott an, daß das Volk im Gelobten Land, wo es nicht mehr umherziehen, sondern in Frieden wohnen würde, einen festen Ort für den Gottesdienst haben würde. Dorthin wollte Jahwe Seinen Namen setzen und in der Mitte der Israeliten einen festen Wohnort haben. Dieser Ort wird in 5. Mose 12 beschrieben. Nachdem aller Götzendienst aus dem Land entfernt sein würde, würde das Volk einen Ort finden, einen von Gott auserwählten Ort, der jedoch nicht namentlich genannt wird, wo es seinem Gott opfern könnte. Die Israeliten würden diesen Ort suchen müssen. Nachdem sie Ruhe von allen ihren Feinden haben würden, würde Gott diesen Ort errichten, um in der Mitte des Volkes zu wohnen und ihn zum Mittelpunkt Seiner Regierung zu machen. Als das Volk dann tatsächlich in das Land einzog, wurde einige Zeit später die Stiftshütte ‑ eigentlich aus rein praktischen Gründen ‑ in Silo errichtet (Jos 18, 1). Ab diesem Zeitpunkt wurde Silo der Ort, wohin die Israeliten zogen, um Gott zu begegnen (1. Sam 1, 3). Dort wurden die Opfer dargebracht und der Priesterdienst ausgeübt. Aber es konnte nicht der endgültige Platz der Anbetung sein, denn es war noch immer ein Zelt, das zeitlichen und veränderlichen Charakter trug. Doch in der Erwartung eines festen Ortes kam das Volk stets an den Ort, wo die Bundeslade stand «Jos 18, 1; Ri 20, 26‑28), um Gott zu nahen. Wir wissen jedoch, daß für die Vermittlung zwischen Gott und dem Volk die Söhne Aarons, das sind die Priester, von Gott bestimmt waren. Und wir wissen auch, wie die Priesterschaft leider hoffnungslos versagt hat. Das war bereits in der Wüste so, und das war noch weitaus stärker so in dem Land. Das Haus Elis kam zu Fall, und Gott mußte es abschneiden, aber erwählte Sich zur gleichen Zeit einen anderen Priester nach Seinem Herzen (1. Sam 2, 35), Zadok, aus dem Haus Eleasars (2. Sam 8, 17; 1. Chron 24, 3). Das Priestertum Zadoks sollte ewig sein, ja, im Tausendjährigen Reich werden die Söhne Zadoks wieder den Priesterdienst ausüben (Hes 40, 46; 43, 19; 44, 15). In der Zwischenzeit, bis Zadok kommen würde, erweckte Gott einen Propheten, nämlich Samuel. Wir sehen auch, wie die Lade von den beiden gottlosen Söhnen Elis in den Kampf mitgenommen und von den Philistern erbeutet wurde. Das ist ein derart wichtiger Augenblick in der Geschichte Israels, daß wir seine Bedeutung nicht unterschätzen dürfen. Was sagte nämlich die Frau des Pinehas, als sie von dem großen Unglück hörte, das Israel getroffen hatte? „Die Herrlichkeit ist von Israel gewichen, denn die Lade Gottes ist genommen!“ (1. Sam 4, 22). Die Herrlichkeit Jahwes wohnte in der Mitte Israels auf dem Versöhnungsdeckel der Lade (2. Mo 25, 22; 40, 34‑38; 3. Mo 16, 2; Jos 7, 6). Die Lade war der Mittelpunkt des Gottesdienstes Israels. Als die Lade weggeführt worden war, war in der Tat die Herrlichkeit Jahwes aus Israel gewichen. Jkabod“ stand auf dem Volk geschrieben: „Nicht‑Herrlichkeit“. In gewisser Beziehung war Gott aus der Mitte Seines Volkes weggegangen, und wenn auch die Lade nach kurzer Zeit wieder in das Land zurückkehrte, kehrte doch die Herrlichkeit Jahwes nicht früher zurück, als bis Salomo Ihm ein Haus gebaut hatte (2. Chron 7, 2). Verschwunden ist die Herrlichkeit, verschwunden ist die Lade, verschwunden ist auch der Platz, den Silo in der Mitte Israels einnahm. Silo konnte nicht länger der Mittelpunkt der Regierung Gottes sein. „Denn gehet doch hin nach meiner Stätte, die zu Silo war, woselbst ich zuerst meinen Namen wohnen ließ, und sehet, was ich ihr getan habe wegen der Bosheit meines Volkes Israel“ (Jer 7, 12. 14; 26, 6. 9). Unter diesen Umständen mußte Gott Silo beiseitestellen. Israel wich zurück und handelte „treulos wie ihre Väter … und sie erbitterten ihn durch ihre Höhen … Gott hörte es und ergrimmte, und er verachtete Israel sehr. Und er verließ die Wohnung zu Silo, das Zelt, welches er unter den Menschen aufgeschlagen hatte“ (Ps 78, 56‑60). Gewichen ist die Herrlichkeit und auch der Ort des Gottesdienstes!
Die Erwählung Zions als Ort der Königsherrschaft und des Gottesdienstes
Wo blieben nun die Verheißungen Gottes, der ein Heiligtum und einen Ort des Gottesdienstes verheißen hatte? In 1. Samuel 4 ist davon nichts übrig geblieben. Aber „die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11, 29). Und Gott erfüllt Seine Verheißungen zu Seiner Zeit und auf Seine Weise. Wo Israel versagt hat, da richtet Gott ein neues Zeugnis auf, und zwar durch den Mann nach Seinem Herzen. Zuerst nimmt das Volk zwar noch das Recht in eigene Hände: anstelle der Herrlichkeit und der Autorität, die von Israel gewichen sind, bitten sie um einen König, wie ihn die umliegenden Nationen hatten (1. Sam 8). „Und von da an begehrten sie einen König, und Gott gab ihnen Saul, den Sohn Kis‘, einen Mann aus dem Stamme Benjamin, vierzig Jahre lang. Und nachdem er ihn weggetan hatte, erweckte er ihnen David zum König, welchem er auch Zeugnis gab und sprach: „Ich habe David gefunden, den Sohn Isais, einen Mann nach meinem Herzen, der meinen ganzen Willen tun wird““ (Apg 13, 21. 22; Ps 89, 20; 1. Sam 13, 14). Saul, der König nach dem Herzen des Menschen, versagt; doch dann stellt Gott David vor, den Mann nach Seinem Herzen (1. Sam 12, 22. 23; 16, 1). Wunderbarer Augenblick! Denn dieser David ‑ und seine Nachkommenschaft bis in Ewigkeit ‑ wird der Vertreter Gottes auf Erden; er wird das Zentrum der Regierung Gottes in Israel und von da aus über die ganze Welt. Und nicht nur das: Mit diesem ewigen Königtum verbindet Gott auch für ewig den beständigen Ort der Anbetung, den Ort, wo die Herrlichkeit Gottes auf der Erde wohnt. Zion, die Stadt Davids, wird zugleich die Stadt Gottes (Ps 48, 1). Nach dem Beiseitestellen Elis erwählt Gott den Priester Zadok, nach dem Beiseitestellen Sauls erwählt Gott den König David, und nach dem Beiseitestellen von Silo erwählt Gott Zion, die Stadt Davids. „Und er (Gott) verließ die Wohnung zu Silo, das Zelt, welches er unter den Menschen aufgeschlagen hatte … Da erwachte, gleich einem Schlafenden, der Herr … Und er verwarf das Zelt Josephs, und den Stamm Ephraim erwählte er nicht; sondern er erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, den er geliebt hatte. Und er baute gleich Höhen sein Heiligtum, gleich der Erde, die er auf ewig gegründet hat. Und er erwählte David, seinen Knecht und nahm ihn von den Hürden der Schafe; hinter den Säugenden weg ließ er ihn kommen, um Jakob, sein Volk, zu weiden, und Israel, sein Erbteil. Und er weidete sie nach der Lauterkeit seines Herzens, und mit der Geschicklichkeit seiner Hände leitet er sie“ (Ps 78, 60‑72). Wie Melchisedek, der erste biblische König von Jerusalem, in gewissem Sinn ein ewiger König‑Priester war, so verband Gott auch in David für ewig Sein Heiligtum auf Zion mit dem Königtum Davids. Die Parallele sehen wir in Psalm 76, 2: „In Salem ist seine Hütte, und seine Wohnung in Zion.“
Die ganze Entwicklung der Wege Gottes mit Seinem Volk kommt eigentlich schon zu ihrem Beginn in dem Lied der Hanna zum Ausdruck. Sie besingt in der schönen Prophezeiung die Wege Gottes mit Israel bis in die ferne Zukunft. „Denn Jahwes sind die Säulen der Erde“ (1. Sam 2, 8). Ihm gehört die Erde, wie es im kommenden Friedensreich vollkommen gesehen werden wird. Dann werden die Gottlosen umkommen, und die Frommen Gottes werden bewahrt werden. Dann wird Jahwe die Erde richten und Seinem König Stärke geben und das Horn Seines Messias (Gesalbten) erhöhen (Verse 9 und 10). Was Christus im Friedensreich sein wird, das finden wir im Buch Samuel bei David dem Grundsatz nach schon verwirklicht. David ist der große Gegenstand dieses Buches. Christus ist der große Sohn Davids, der große König‑Priester. Dieser Gedanke gibt gerade der Geschichte Davids ihr Gepräge. Wenn David die Bundeslade nach Zion bringt, ist dadurch Zion für ewig die Stadt Gottes geworden, die mit dem Haus Davids verbunden ist. Gott Selbst verheißt David diese ewige Verbindung. „Wenn deine Tage voll sein werden . . . so werde ich deinen Samen nach dir erwecken . . . und werde sein Königtum befestigen. Der wird meinem Namen ein Haus bauen; und ich werde den Thron seines Königtums befestigen auf ewig. Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein“ (2. Sam 7, 12‑14). Wenn jemand denkt, daß der königliche Thron Davids nun doch unbesetzt ist und bleiben wird, dann kennt er die Schrift nicht. „Denn so spricht Jahwe: Nie soll es dem David an einem Manne fehlen, der auf dem Throne des Hauses Israel sitze“ (Jer 33, 17). Und wer wird dieser Mann sein? Hebräer 1, 5 gibt darauf Antwort, wo der Apostel dort diese Weissagung aus 2. Samuel 7, 14 auf den Herrn Jesus anwendet. Dieser ist der Sohn Davids, der auf dem Thron Israels sitzen wird und der einmal die Weissagung aus Psalm 132 erfüllen wird: Jahwe hat dem David geschworen in Wahrheit, er wird nicht davon abweichen: Von der Frucht deines Leibes will ich auf deinen Thron setzen . . . Denn Jahwe hat Zion erwählt, hat es begehrt zu seiner Wohnstätte: Dies ist meine Ruhe immerdar; hier will ich wohnen, denn ich habe es begehrt . . . Dort will ich das Horn Davids wachsen lassen, habe eine Leuchte zugerichtet meinem Gesalbten. Seine Feinde will ich bekleiden mit Schande, und auf ihm wird seine Krone blühen“ (Verse 11‑18). Auch hier sehen wir wieder Zion verbunden mit David, und zwar vor allem im Friedensreich. „In jenen Tagen und zu jener Zeit werde ich dem David einen Sproß der Gerechtigkeit hervorsprossen lassen, und er wird Recht und Gerechtigkeit üben im Lande. In jenen Tagen wird Juda gerettet werden und Jerusalem in Sicherheit wohnen … Nie soll es dem David an einem Manne fehlen, der auf dem Thron des Hauses Israel sitze. Und den Priestern, den Leviten, soll es nie an einem Manne vor mir fehlen, der Brandopfer opfere und Speisopfer anzünde und Schlachtopfer zurichte alle Tage“ (Jer 33, 15‑18).
Der Berg der Gnade
So wird Zion der zweite Berg, der in der Geschichte Israels eine Rolle spielt. Der erste Berg ist Sinai, und er steht seinem Charakter nach in direktem Gegensatz zu Zion. Auf dem Sinai wurde das Gesetz gegeben, das für das Volk ein Zuchtmeister war (Gal 3, 24), die Norm, der Gott das Volk unterwarf. Zion jedoch ist der Berg der Gnade, der Ort, wo Gott dem Gericht über Israel (drei Tage Pest) Einhalt gebot und wo David aus Dankbarkeit einen Altar errichtete. Es ist der Ort, der von den unveränderlichen Verheißungen Gottes zeugt, die ewig sind und nicht verändert werden durch den Unglauben und das Versagen des Menschen; der Ort, wo Gott Seinen König eingesetzt hat (Ps 2,6‑12) und wo Sein Heiligtum steht. Zion ist der Ort, mit dem stets der Überrest verbunden ist, den Gott in Seiner Gnade in einer Zeit des Verfalls bildet, im Gegensatz zum Sinai, dem Ort des Gesetzes und des Gerichts. Dieser Gegensatz kommt deutlich in Hebräer 12 zum Ausdruck: „Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, der betastet werden konnte und zu dem entzündeten Feuer, und dem Dunkel und dem Sturm, und dem Posaunenschall, und der Stimme der Worte, deren Hörer baten, daß das Wort nicht mehr an sie gerichtet würde, denn sie konnten nicht ertragen, was geboten wurde … Sondern ihr seid gekommen zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem“ (Verse 18‑22). Hier sehen wir den christlichen Überrest des Volkes Israel, der von der ungläubigen Masse abgesondert ist (Hebr 13, 12‑14). In Zukunft wird es einen anderen Überrest aus Israel geben: die Juden, die durch die große Drangsal gegangen sind. „Und ich sah: und siehe, das Lamm stand auf dem Berge Zion und mit ihm hundertvierundvierzigtausend, welche seinen Namen und den Namen seines Vaters an ihren Stirnen geschrieben trugen“ (Offb 14, 1). Sie tragen den Charakter derer, die wir in Psalm 125 finden: „Die auf Jahwe vertrauen, sind gleich dem Berge Zion, der nicht wankt, der ewiglich bleibt“, und Psalm 126: „Als Jahwe die Gefangenen Zions zurückführte, waren wir wie Träumende. Da ward unser Mund voll Lachens, und unsere Zunge voll Jubels.“ Die letzteren bilden den Überrest aus den zehn Stämmen; vereinigt mit dem Überrest auf Zion aus Offenbarung 14, werden sie unter der Herrschaft des wahren David ewigen Segen empfangen.
Vorbild der zukünftigen Geschehnisse um Zion
Machen alle diese Überlegungen nicht deutlich, daß die Geschichte Davids und die vorhergehenden Ereignisse ein besonders schönes Bild abgeben von den zukünftigen Erlebnissen des Volkes? Die Grundsätze, die wir in den Büchern Samuel bis Chronika finden, sind so fundamental und so allgemein, sie sprechen so deutlich von der Zukunft, daß Gott uns hier zugleich eine auffällige Skizze der zukünftigen Ereignisse gibt. Da wir diese Ereignisse später ausführlich betrachten werden, brauchen wir sie nur kurz anzudeuten. In gewisser Hinsicht können wir eigentlich sagen, daß die Geschichte Israels nach der Regierung Salomos, was ihren Charakter betrifft, wieder ganz neu mit 1. Samuel 1 beginnt.
Denn schon mit Salomo versagt das Königtum durch seine Abgötterei. Nach ihm, als das Königreich zweigeteilt ist, sehen wir das Volk immer mehr von Gott abfallen. Auch das Priestertum gerät wieder in Verfall, genau wie das bei den Söhnen Elis war (2. Chron 36, 14). Und auch jetzt sehen wir wieder, wie Gott Propheten erweckt, wie Er es in Samuel tat. Diese Propheten, namentlich Jesaja, Hosea, Amos, Micha und Zephanja müssen das Gericht ankündigen, aber sie führen auch gleichzeitig den Messias vor die Blicke, wie einst Samuel David einführte. Dann sehen wir, wie die Herrlichkeit Israels weggenommen wird, so wie einst die Bundeslade weggeführt wurde. Die Herrlichkeit Jahwes verläßt den Tempel, und Nebukadnezar erobert die Stadt. Mit Nebukadnezar ändert Gott dann die Regierung über diese Erde. Diese „Zeiten der Nationen“, die mit Nebukadnezar beginnen, werden durch die Zeit vorgebildet, in der die Bundeslade bei den Philistern ist. Gleichzeitig mit der Wegführung der Bundeslade werden auch die Priester umgebracht (2. Kön 25, 18‑21). Aber diese Zeiten der Nationen finden ihr Ende. Die Bundeslade kehrt zurück, obschon noch nicht die Rede von der Herrlichkeit Jahwes ist. So sind nun auch die Juden wieder in das Land zurückgekehrt, ohne daß Gott schon in ihrer Mitte ist. Dann wird ein König nach dem Herzen des Menschen eingesetzt: Saul, ein Bild des Antichristen. Dieser wird sich dem zukünftigen jüdischen Überrest gegenüber zuerst freundlich verhalten, wie auch Saul David zuerst freundlich behandelte. David ist nicht nur ein Bild von dem Messias, sondern auch von dem Überrest aus Juda, mit dem der Messias so eng verbunden ist in dem Matthäus-Evangelium, in den Prophezeiungen und vor allem auch in dem zweiten Buch der Psalmen. In seinem Kampf gegen Goliath ist David ein Bild des Messias, der den Satan überwunden hat. Später aber ändert sich die Haltung Sauls: der Antichrist offenbart seine wahre Gestalt und beginnt, den Überrest zu verfolgen. Endlich kommt auch der Antichrist zu seinem Ende; aber bevor der Messias, verbunden mit Seinem Überrest, in Frieden regieren kann, müssen noch viele Feinde erschlagen werden. Jerusalem wird aus der Hand des Feindes zurückerobert, und der Messias hält Seinen Einzug. Auf Zion gibt es eine Zuflucht (davon spricht die dorthin überführte Bundeslade), aber der Tempel kann noch nicht gebaut werden, solange nicht alle Feinde vernichtet sind; der Messias muß noch gegen die umliegenden Völker kämpfen. Psalm 60, der nach den Kriegen in 2.Samuel 8 geschrieben worden ist, ist ein deutlicher Hinweis auf diese zukünftigen Kriege: Moab wird dann das Waschbecken Gottes sein, und auf Edom wird Er Seine Sandale werfen und Philistäa wird ihm zujauchzen.
Zum Schluß, wenn der letzte Kampf ausgetragen ist, wird der Messias nach Seiner „Davidsregierung“ als der wahre Salomo, als der Friedefürst herrschen. Dann wird Sein Name ausgehen über die ganze Erde, und es werden ‑ wie einst die Königin von Scheba ‑ die Nationen kommen, um die Herrlichkeiten des Messias anzuschauen. Dann wird der in Hesekiel beschriebene Tempel gebaut werden, und die Herrlichkeit Jahwes wird auf Zion herabkommen, um inmitten des auserwählten Volkes unter der gesegneten Herrschaft des Sohnes Davids zu wohnen.
Einst erfüllte die Herrlichkeit Jahwes das Haus, das Salomo Ihm gebaut hatte (2. Chron 7, 1); Gott Selbst kam auf die Tenne des Jebusiters Arawna, wo das gerechte Gericht Gottes durch Gnade beendet worden war und wo David vor Jahwe einen Altar gebaut hatte, um dort an der Stätte zu wohnen, die Er zu Seiner Wohnung gemacht hatte, in dem Heiligtum, das Seine Hände bereitet hatten (2. Mo 15, 13‑18), an der Stätte, die schon so lange vorher verheißen war. Das war der größte Augenblick, als Jerusalem die Stadt Gottes wurde (Ps 48, 1), die Stätte, wo der Name Jahwes war (1. Kön 8, 29) ‑ die heilige Stadt (Jes 52, 1; Mt 27, 53).
Der Verfall
Wenn Gott in Seiner Gnade den Menschen in eine neue Stellung bringt, dann sehen wir immer, wie beinahe unmittelbar danach der Verfall eintritt. So war es auch bei der Stadt Jerusalem, die Gott Sich erwählt hatte, wo Sein Heiligtum stand und wo Er in der Mitte Seines Volkes wohnte. Ich will nicht ausführlich darauf eingehen. Wir sehen jedoch, wie trotz der Warnungen Gottes der innere Verfall der Stadt immer mehr zunahm, bis Gott schließlich das endgültige Gericht ankündigen mußte. Wie die Propheten es angekündigt hatten, so geschah es auch. Gottes Gericht traf das Königshaus und die Gottlosen in der Stadt Jerusalem, die sich weigerten, die Stadt zu verlassen, um zu den Feinden überzugehen, die die Zuchtrute in der Hand Gottes waren. Schließlich findet ein wichtiges, aber trauriges Ereignis in Jerusalem statt, das auch von sehr großer Bedeutung ist, wenn es darum geht, die Zukunft zu verstehen. Gott offenbart dem Propheten Hesekiel in dem entfernten Babel den Schrecken dieser Ereignisse. Wir finden nämlich nicht nur in Hesekiel 4 und 5, wie Jerusalem belagert und erobert werden würde, sondern in den Kapiteln 8 bis 11 steht etwas, was noch weitaus schlimmer ist als diese äußerliche Verwüstung. Dort sehen wir nämlich, daß der Tempel Gottes so verunreinigt worden ist, daß die Herrlichkeit Jahwes den Tempel verlassen und daß Gott Sich in Seinen Himmel zurückziehen muß. „Und die Herrlichkeit Jahwes begab sich von der Schwelle des Hauses hinweg und stellte sich über die Cherubim. Und die Cherubim erhoben ihre Flügel und hoben sich vor meinen Augen von der Erde empor, als sie sich wegbegaben; . . . und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen“ (Hes 10, 18. 19). „Und die Cherubim erhoben ihre Flügel, und die Räder waren neben ihnen; und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen. Und die Herrlichkeit Jahwes erhob sich aus der Mitte der Stadt und stellte sich auf den Berg, welcher gegen Osten der Stadt ist“ (Hes 11, 22. 23).
Dieses Ereignis, das hier ganz schlicht beschrieben wird, ist von so großer Bedeutung in der Heilsgeschichte Gottes, daß die ganze Geschichte Israels, ja der ganzen Welt, bis auf den heutigen Tag dadurch bestimmt worden ist. Denn diese Herrlichkeit Jahwes ist seit Hesekiel 10 und 11 nicht mehr nach Israel zurückgekehrt. Sie wird erst in der Zukunft zurückkehren, in umgekehrter Reihenfolge wie sie weggegangen ist. Wenn nämlich Jesus Christus auf den Ölberg, der östlich der Stadt liegt, wiederkommen wird, wird die Herrlichkeit Jahwes zu Seinem Volk zurückkehren, in die Stadt hineingehen und den neuen Tempel betreten. Erst dann, aber nicht früher! Als Moses einst die Stiftshütte gebaut hatte, kam die Herrlichkeit Jahwes herab in die Mitte des Volkes und ruhte auf dem Versöhnungsdeckel. Später, als Salomo den Tempel gebaut hatte, wurde der Tempel die lang vorhergesagte Wohnstätte der Herrlichkeit Gottes in Israel. Aber als dieses Heiligtum durch den greulichen Götzendienst des Volkes verdorben war, mußte Gott dieses Heiligtum verlassen. Seitdem steht schon gut 2500 Jahre wieder das Wort „Ikabod“ auf dem Volk geschrieben: „Nicht‑Herrlichkeit“. Bereits 2500 Jahre ist Israel ein Volk „ohne König . . . ohne Fürsten, und ohne Schlachtopfer und ohne Bildsäule, und ohne Ephod und Teraphim“ (Hos 3, 4). Alle diese Jahrhunderte hindurch ist Israel äußerlich ein Volk wie alle anderen Völker, ohne besondere Herrlichkeit, ohne die gesegnete Anwesenheit Jahwes in ihrer Mitte.
Aber, könnte man fragen, ist das Volk nicht wieder aus Babel zurückgekehrt? Die Juden haben doch Stadt und Tempel wieder aufgebaut, und Gott hat Sich doch wieder mit dem Volk beschäftigt! Das ist wohl wahr, aber bedeutet das, daß auch die Herrlichkeit Gottes zu dem Volk zurückgekehrt ist? Besagt das, daß Israel nach der Gefangenschaft wieder das Volk Gottes genannt wird? Die Schrift lehrt uns das Gegenteil. Der Prophet Haggai klärt uns auf über den wirklichen Stand der Dinge nach der Gefangenschaft. In Esra 3, 12 lesen wir, wie viele alte Menschen weinten, als der Grund zu dem neuen Tempel gelegt wurde. An sie richtet sich die Frage Jahwes durch den Propheten Haggai: „Wer ist unter euch übriggeblieben, der dieses Haus in seiner früheren Herrlichkeit gesehen hat? und wie sehet ihr es jetzt? Ist es nicht wie nichts in euren Augen?“ (Hag 2, 3). Nein, die Herrlichkeit, die der Tempel früher besessen hatte, besaß er nicht mehr, und die Alten waren sich dessen bewußt. Und diese Herrlichkeit würde auch nicht so bald zurückkehren. Aber es wird gewiß geschehen. Einmal wird der herrliche Augenblick kommen, sagt Haggai, daß alle Nationen erschüttert werden und daß das „Ersehnte aller Nationen“ (der Messias) kommen wird und daß Jahwe Sein Haus mit Herrlichkeit erfüllen wird. Ja, die zukünftige Herrlichkeit des Hauses wird sogar noch größer sein als die vergangene, denn an diesem Ort will Jahwe Frieden geben, wenn der Friedefürst erscheinen wird (Hag 2, 6‑9).
Hesekiel berichtet von diesem Augenblick, wo die Herrlichkeit Jahwes wieder in den Tempel zurückkehren wird. In demselben Buch, wo uns berichtet wird, daß die Herrlichkeit Jahwes aus dem Tempel wegzieht, finden wir auch die Beschreibung ihrer Rückkehr (Kap. 43, 1‑9).
Es ist sehr bedeutsam, daß die Propheten, die nach der Gefangenschaft prophezeiten (Haggai, Sacharja und Maleachi), das Volk in dieser Zeit nirgends das Volk Gottes nennen. Das war auch nicht möglich, solange Gott nicht in der Mitte Seines Volkes wohnte. Hosea sagte sogar ausdrücklich, daß das Volk in dieser Zwischenzeit von Gott „Lo‑Ammi“, das heißt „Nicht-mein-Volk“ genannt wird: „denn ihr seid nicht mein Volk, und ich, ich will nicht euer sein.“ Wohl werden sie später „Kinder des lebendigen Gottes“ genannt werden werden (Hos 1, 8‑11). Aber so gewiß, wie einmal Juda und Israel durch das Erbarmen Gottes zurückkehren werden und wieder Sein Volk genannt werden, so gewiß ist das jetzt noch nicht der Fall. Es ist also ein Zwischenzustand entstanden seit dem Weggehen bis zur Rückkehr der Herrlichkeit Jahwes, eine Zwischenzeit, die nicht nach Israel genannt werden kann, denn es ist nicht mehr das Volk Gottes. Das Zeugnis Gottes inmitten Seines Volkes als Jahwe der ganzen Erde, der von Israel aus regiert, ist für lange Zeit zu Ende. Gott hat Sich gleichsam von Seinem Volk in den Himmel zurückgezogen, und von da an wird Er „der Gott des Himmels“ genannt (Esra 5, 11. 12; 7, 12. 21‑23; Dan 2, 18. 19. 28. 37. 44). Natürlich bleibt auch nach der Gefangenschaft eine gewisse Beziehung zwischen Gott und Seinem Volk bestehen. Er sendet noch Seine Propheten, Er läßt das Haus wieder aufbauen, das noch immer Sein Haus genannt wird, Er verbindet Sich mit dem Überrest nach Seinem Herzen, der aus Babel zurückkehrt, so daß Esra Ihn in Verbindung mit Seinem Haus und Seinem Überrest noch den Gott Israels nennt, der in Jerusalem wohnte. Aber nichtsdestoweniger müssen wir uns doch der großen Veränderung, die stattgefunden hatte, bewußt bleiben.
Die Zeiten der Nationen
Noch deutlicher wird das, wenn wir uns vergegenwärtigen, welches Zeugnis an die Stelle Israels getreten war, oder vielmehr, auf wen die Regierung Gottes auf der Erde übergegangen war. Wir lesen in Daniel 2, 37, was Daniel zu Nebukadnezar sagt: „Du, o König, du König der Könige, dem der Gott ‑ des Himmels das Königtum, die Macht und die Gewalt und die Ehre gegeben hat; und überall, wo Menschenkinder, Tiere des Feldes und Vögel des Himmels wohnen, hat er sie in deine Hand gegeben und dich zum Herrscher über sie alle gesetzt.“ Das Zeugnis, die Regierung Gottes in Israel, war auf die Nationen übergegangen, und zwar auf den, der von Gott zum Haupt der Nationen gesetzt worden war, Nebukadnezar. Dieser Mann, der von Gott als Zuchtrute gesandt worden war, um das göttliche Gericht über das Volk zu bringen, hatte nicht nur ein Volk erobert, sondern durch die Hand Gottes auch die Weltherrschaft. Er hatte sich nicht selbst zum Weltherrscher gemacht, sondern Gott Selbst hatte ihm diesen Platz gegeben, um ihn und seine Nachfolger zu prüfen, ob die Nationen in dem treu sein würden, worin Israel versagt hatte. Seit diesem Zeitpunkt sprechen wir nun mit Lukas 21, 24 von den „Zeiten der Nationen“. Sie haben mit Nebukadnezar begonnen und enden, wenn der Messias in Jerusalem Seine Weltherrschaft antritt. Er ist der Stein, der die Herrschaft der Völker vernichten wird und der ein himmlisches, göttliches Königreich auf der Erde errichten wird (Dan 2, 44). Damals, als Jahwe inmitten Israels regierte, wurde Er der Herr der ganzen Erde genannt (Jos 3, 11). Jetzt ist Er der Gott des Himmels; und Sein „Statthalter“, Sein Stellvertreter auf der Erde ist Nebukadnezar, das Haupt der Nationen, sowie seine Nachfolger. Ab diesem Zeitpunkt wird auch die Zeit nicht mehr nach den Königen von Israel und Juda gerechnet, sondern nach den Regenten der Nationen (2. Kön 24, 12; 25, 1. 8; Dan 1, 21; 2, 1; 7, 1; 8, 1; 9, 1; 10, 1; 11, 1).
In Jesaja 5 spricht Gott voller Trauer zu Seinem Volk, Seinem Weinberg, von dem Er erwartet hatte, daß er gute Früchte hervorbrächte, der aber nur wilde Trauben brachte: „Nun denn, Bewohner von Jerusalem und Männer von Juda, richtet doch zwischen mir und meinem Weinberge! Was war noch an meinem Weinberge zu tun, das ich nicht an ihm getan hätte? Warum habe ich erwartet, daß er Trauben brächte, und er brachte Herlinge? Nun, so will ich euch denn kundmachen, was ich meinem Weinberge tun will: seinen Zaun wegnehmen, daß er abgeweidet werde, seine Mauer niederreißen, daß er zertreten werde“ (Verse 3‑5). Der Prophet fügt dann noch hinzu: „Denn der Weinberg Jahwes der Heerscharen ist das Haus Israel, und die Männer Judas sind die Pflanzung seines Ergötzens“ (Vers 7). Und durch Jeremia sagt Jahwe: „Und ich hatte dich gepflanzt als Edelrebe, lauter echtes Gewächs; und wie hast du dich mir verwandelt in entartete Ranken eines fremden Weinstocks! Ja, wenn du dich mit Natron wüschest und viel Laugensalz nähmest: schmutzig bleibt deine Ungerechtigkeit vor mir, spricht der Herr, Jahwe“ (Jer 2, 21. 22). Durch den Propheten Hesekiel, der mit dem Weinstock im besonderen auf Jerusalem hinweist, wird dann das vollständige Gericht angekündigt: „Darum, so spricht der Herr, Jahwe: Wie das Holz des Weinstocks unter den Bäumen des Waldes, welches ich dem Feuer zur Speise gebe, also gebe ich die Bewohner von Jerusalem dahin; und ich werde mein Angesicht wider sie richten: aus dem Feuer kommen sie heraus, und Feuer wird sie verzehren. Und ihr werdet wissen, daß ich Jahwe bin, wenn ich mein Angesicht wider sie richte. Und ich werde das Land zur Wüste machen, weil sie Treulosigkeit begangen haben, spricht der Herr, Jahwe“ (Hes 15, 6‑8). In Kapitel 16 folgt dann die ganze Geschichte Jerusalems: ihr Ursprung, ihre Schönheit, ihr Abfall, ihr Untergang, ihre Erlösung und ihre Segnung am Ende. Und wenn dann das Gericht über Jerusalem gekommen ist, schildert Jeremia noch die Schrecknisse, in denen sich der Weinberg durch das Gericht befindet: „Viele Hirten haben meinen Weinberg verderbt, mein Ackerstück zertreten; sie haben mein köstliches Ackerstück zur Öde gemacht: verwüstet trauert es um mich her. Das ganze Land ist verwüstet, weil niemand es zu Herzen nahm. Über alle kahlen Höhen in der Steppe sind Verwüster gekommen; denn ein Schwert von Jahwe frißt von einem Ende des Landes bis zum anderen Ende des Landes: kein Friede allem Fleische!“ (Jer 12, 10‑12). Und die Klagelieder sind natürlich voll davon ‑ zu viel, um alles anzuführen. Darin besingt der Prophet die große Stadt, die so leidvoll untergegangen ist durch die strafende Hand Gottes, der sie um ihrer Sünde willen züchtigen mußte.
Zweierlei Heilsprophezeiungen
Mit der Verwüstung Jerusalems scheint wohl sehr radikal jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Israel zunichte gemacht worden zu sein. Aber das ist unmöglich. „Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,29). Die bedingungslosen Verheißungen, die den Vätern gegeben worden sind, haben nichts mit der Verantwortlichkeit Israels zu tun, weil sie ausschließlich auf die souveräne Gnade Gottes gegründet sind. Deshalb bleibt selbst während des größten Abfalls und der schwersten Gerichte eine unerschütterliche Verheißung bestehen, die in Gott Selbst verankert liegt (vgl. Micha 7, 18‑20). Letzten Endes wird die Gnade Gottes alles zum Guten wenden (vgl. Hebr 4, 1. 9). Darum sprechen die Propheten in ihren Gerichtsankündigungen doch auch immer wieder über den letztlich folgenden Segen, sogar die Propheten Hesekiel und Jeremia, die in der Zeit des Untergangs Jerusalems prophezeiten. Wir müssen dabei scharf zwischen zweierlei Heilsprophezeiungen unterscheiden, die bei diesen Propheten, trotz dieses Unterschiedes, eng miteinander verbunden sind. Warum das so ist, werden wir gleich sehen.
Erstens gab es eine Verheißung der Wiederherstellung, die innerhalb kurzer Zeit erfüllt werden sollte. Jeremia nennt sogar den genauen Zeitpunkt: er empfängt von Jahwe das Wort, daß die Juden siebzig Jahre lang dem König von Babel dienen und danach in ihr Land zurückkehren würden (Jer 25, 11. 12; 29, 10; vgl. 2. Chron 36, 21; Dan 9, 2). Für diese Rückkehr nennt Jahwe drei Gründe, die sehr bedeutsam sind:
a) Mit den 70 Jahren würden dem Land Palästina seine Sabbathe erstattet, die es so lange durch die Untreue des Volkes gegenüber dem Gesetz hatte entbehren müssen. Jedes siebte Jahr sollte ein Sabbathjahr sein (3. Mo 25, 1‑7); damit hatte das Land ein Anrecht auf Entschädigung für sieben mal siebzig, das sind 490 Jahre. Das war ungefähr die Zeit seit dem Beginn des Königtums. Der Keim der Untreue lag also schon zu Beginn der Geschichte Jerusalems.
b) Nach 70 Jahren würde das Maß der Ungerechtigkeit des Königs von Babel und seines Volkes voll sein, und Gott mußte das Gericht über sie bringen. Auch der, dem Gott einen solch erhabenen Platz geschenkt hatte ‑ die Regierung über alle Nationen ‑ hatte sich gegen Gott erhoben und verfiel dem Gericht. Sein Volk sollte dem König von Persien dienstbar werden, und der würde Gottes Werkzeug sein, um die Juden in ihr Land zurückzubringen. Babel und das Land der Chaldäer aber würden verwüstet werden.
c) Der wichtigste Grund aber für die Rückkehr des Überrestes sollte die unwandelbare Treue Gottes sein: „Denn ich weiß ja die Gedanken, die ich über euch denke, spricht Jahwe, Gedanken des Friedens und nicht zum Unglück, um euch Ausgang und Hoffnung zu gewähren . . . Und ich werde . . . euch sammeln aus allen Nationen und aus allen Orten, wohin ich euch vertrieben habe, spricht Jahwe; und ich werde auch an den Ort zurückbringen, von wo ich euch weggeführt habe.“ (Jer 29, 11‑14). Über dieses Volk, das alle Rechte auf Segen verwirkt hatte, hegte Gott Gedanken des Friedens. Seine Gnade würde ihre Rückkehr bewirken.
Diese Verheißung auf eine Rückkehr bringt uns zu der zweiten Art der Heilsprophezeiungen, nämlich auf die Prophezeiungen, die Bezug nehmen auf die Geschehnisse, die noch viel weiter in der Zukunft liegen, ja, die auch heute noch nicht erfüllt sind. Freilich sind viele Weissagungen bereits teilweise erfüllt worden, aber in gewissem Sinn ist keine einzige Prophezeiung vollständig erfüllt, das heißt in ihrem ganzen Umfang und in ihrer Ganzheit betrachtet. Das ist auch nicht möglich, weil jede Weissagung erst ihre vollständige Erfüllung in dem Herrn Jesus findet. Keine einzige Weissagung kann in sich selbst und auf dem Hintergrund der damaligen Geschehnisse völlig erklärt werden (vgl. 2. Petr 1, 20‑21) , denn jede Weissagung kann nur verstanden werden, wenn wir Christus als ihren Mittelpunkt sehen. Der Geist der Weissagung ist das Zeugnis Jesu (Offb 19, 10), und dann nicht nur des Herrn Jesus in Seinem ersten Kommen, denn die Prophetie spricht nicht nur über Sein erstes Kommen (von den Leiden, die auf Christum kommen sollten), sondern auch von den Herrlichkeiten danach (1. Petr 1, 11). Sie sprechen daher zu uns von der „Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ (2. Petr 1, 16). Wir können die Prophetie deshalb auch nur verstehen lernen, wenn wir sie immer auf dem Hintergrund des großen Heilsplans Gottes betrachten, nämlich in bezug auf die Verwaltung der Fülle der Zeiten: alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist (Eph 1, 10). Darum kann auch keine einzige Weissagung vollständig erfüllt sein, solange Christus nicht in Herrlichkeit geoffenbart worden ist. Wohl ist es so, daß eine Anzahl Weissagungen in den Regierungswegen Gottes schon erfüllt ist. Dabei müssen wir aber immer bedenken, daß das eigentliche Thema der Prophetie niemals Gottes Handlungen durch die Vorsehung sind (also nicht unmittelbar und nicht für alle Menschen sichtbar), sondern Seine direkten Taten, sowohl in Gnade als auch im Gericht. Wenn wir diese einfachen Grundsätze festhalten, haben wir den schriftgemäßen Schlüssel zum Verständnis der Prophetie in Händen.
Christus, der Mittelpunkt der Prophezeiungen
Wir finden also in dieser Zeit des Untergangs der Stadt Jerusalem auch Heilsprophezeiungen, die sich direkt auf die Endzeit und den Segen am Ende beziehen, und Christus ist ihr Mittelpunkt. In den Worten Jeremias und Hesekiels sehen wir Ihn häufig in schroffem Gegensatz zu den gottlosen Königen, Seinen Vorfahren, die damals regierten. In Jeremia 23, 5 ist Er der gerechte und verständige Sproß Davids, der das arme Volk, das durch seine verdorbenen Hirten zerstreut war, beschirmen und segnen wird. In Hesekiel 17 finden wir eine besonders schöne Prophezeiung über den Messias. In diesem Kapitel wird das Königshaus Davids mit einer Zeder verglichen, deren oberster Schößling (Jojakin) von einem Adler (dem König von Babel) in eine Stadt von Kaufleuten (nach Babel) gebracht wird. Dieser Adler nimmt dann einen von den Setzlingen des Landes (Zedekia), der durch seine Pflege ausschlägt und zu einem üppigen Weinstock wird. In Undankbarkeit und Untreue jedoch streckt dieser Weinstock seine Wurzeln aus zu einem anderen Adler (dem König von Ägypten) und kommt zum Aufstand gegen Babel, das ihm wohlgetan hatte. Der Urteilsspruch lautet dann, daß der Weinstock völlig verdorrt. Doch dann sagt Gott: „Ich werde von dem Wipfel der hohen Zeder einen Schößling nehmen und ihn setzen; von dem obersten ihrer Schößlinge werde ich einen zarten abbrechen und ihn pflanzen auf einen hohen und erhabenen Berg. Auf den hohen Berg Israels werde ich ihn pflanzen, und er wird Zweige treiben und Frucht tragen und zu einer herrlichen Zeder werden“ (Hes 17, 22. 23).
Auch in Hesekiel 21 finden wir einen wichtigen Hinweis auf Christus im Kontrast zu Zedekia. Dieses Kapitel umfaßt das Gericht über Israel und endet wie folgt: „Weil ihr eure Ungerechtigkeit in Erinnerung bringet, indem eure Übertretungen offenbar werden, so daß eure Sünden in allen euren Handlungen zum Vorschein kommen ‑ weil ihr in Erinnerung kommet, werdet ihr von der Hand ergriffen werden. Und du, du Unheiliger, Gesetzloser, Fürst Israels, dessen Tag gekommen ist zur Zeit der Ungerechtigkeit des Endes! so spricht der Herr, Jahwe: Hinweg mit dem Kopfbund und fort mit der Krone! Dies wird nicht mehr sein. Das Niedrige werde erhöht und das Hohe erniedrigt! Umgestürzt, umgestürzt will ich sie machen; auch dies wird nicht mehr sein ‑ BIS DER KOMMT, welchem das Recht gehört: dem werde ich’s geben“ (Hes 21, 29‑32).
Sowohl in Jeremia als auch in Hesekiel finden wir einen besonderen Abschnitt, wo die letzten Geschehnisse über Jerusalem und Juda ausführlich behandelt werden, nämlich Jeremia 30‑33 und Hesekiel 33‑39; darüber werden wir später sprechen. Auch in diesen Abschnitten nimmt der verheißene Messias wieder den hervorragenden Platz ein: “ . . . Sie werden Jahwe, ihrem Gott, dienen und ihrem König David, den ich ihnen erwecken werde“ (Jer 30, 9). „Und sein Herrlicher wird aus ihm sein, und sein Herrscher aus seiner Mitte hervorgehen“ (Jer 30, 21). „In jenen Tagen . . . werde ich dem David einen Sproß der Gerechtigkeit hervorsprossen lassen, und er wird Recht und Gerechtigkeit üben“ (Jer 33, 15). Und in Hesekiel: „Und ich werde einen Hirten über sie erwecken, und er wird sie weiden ‑ mein Knecht David: der wird sie weiden, und der wird ihr Hirt sein . . . mein Knecht David wird Fürst sein in ihrer Mitte“ (Hes 34, 23. 24; siehe auch 37, 24. 25).
Die Verbindung zwischen der ersten und zweiten Gefangenschaft
So sehen wir inmitten des Verfalls und der Gerichte diese Verheißungen unendlichen Segens, Verheißungen, die noch auf ihre Erfüllung warten. Nun ist es sehr wichtig, zu beachten, daß diese Verheißungen für das Ende häufig eng in Verbindung stehen mit der Rückkehr aus der ersten Gefangenschaft nach den 70 Jahren. Wenn über diese Rückkehr gesprochen wird, dann werden häufig Segnungen genannt, die das Volk damals überhaupt nicht empfangen hat, sondern die es in Zukunft empfangen wird, zum Beispiel einen König aus dem Haus David, die Vereinigung von Juda und Israel, den Untergang aller Feinde des Volkes, die zentrale Stellung, die das Volk auf Erden einnehmen wird usw. Die erste Rückkehr wird also sehr häufig in den Prophezeiungen als eins gesehen mit der zukünftigen Rückkehr, und das hat auch wieder zur Folge, daß die erste Gefangenschaft, also die 70 Jahre in Babel, als eins betrachtet wird mit der zweiten Gefangenschaft, die mit der zweiten Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 begann und noch immer andauert. Wir finden das zum Beispiel in dem erwähnten Abschnitt Jeremia 30 und 31, wo die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft mit den zukünftigen Segnungen in Verbindung gebracht wird. Das gleiche finden wir in Hosea 3, wo das Volk in die Gefangenschaft zieht und diese Gefangenschaft erst mit dem zukünftigen König „David“ endet. Auch in 5. Mose 28; 30 und 32, der großen Weissagung Moses, finden wir denselben Grundsatz: Wegen ihrer Untreue und ihres Abfalls wird die große Stadt fallen; das deutet sowohl auf die erste als auch auf die zweite Belagerung Jerusalems hin. Danach finden wir die (erste und die zweite) Gefangenschaft als eins gesehen und die Rückkehr mit dem Segen am Ende und der Wiederherstellung. Wir sehen zum Beispiel auch in Sacharja 2, 7. 8, wie Gott Sich nach der babylonischen Gefangenschaft wieder über das Volk erbarmt und das Volk von Babel nach Zion zurückkehrt; aber auch hier wird der erwähnte Segen erst in der Zukunft Wirklichkeit werden. Wir lesen dort: „Siehe, ich komme und werde in deiner Mitte wohnen . . . und sie werden mein Volk sein; und ich werde in deiner Mitte wohnen“ (Verse 10‑11). Wir haben bereits gesehen, daß das noch zukünftig ist.
Hier finden wir auch sogleich den Schlüssel zum Verständnis dieser Verbindung der ersten und zweiten Gefangenschaft. Wie wir gesehen haben, ist das Volk in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Gefangenschaft ohne Herrlichkeit, ohne die Anwesenheit Gottes in seiner Mitte, und ist es nicht mehr das Volk Gottes. Lo‑Ammi ist nun sein Name. Wir müssen auch im Auge behalten, daß dieser Zeitabschnitt, über den wir nun sprechen, noch immer in die „Zeiten der Nationen“ fällt, die erst mit dem Ende der zweiten Gefangenschaft aufhören werden. Die Rückkehr des Überrests aus Babel ist auch keine Wiederherstellung der Nation, keine Wiederherstellung der besonderen Verbindung zwischen Israel und seinem Gott. Und wie gering war die Zahl der Menschen, die wirklich aus Babel zurückkamen! Es war nur ein Bruchteil aller Juden, während der weitaus größte Teil in Babel blieb. Das war keine Wiederherstellung eines gesamten Volkes, sondern nur die Rückkehr einer kleinen Gruppe Juden, um einen jüdischen Staat zu errichten, der nach kurzer Zeit wieder zerschlagen wurde und aufs neue in Gefangenschaft ging. „Kurze Zeit“, denn in der Heilsgeschichte der Bibel wird nur sehr wenig über diesen Zeitabschnitt mitgeteilt. Vierhundert Jahre bleiben sogar völlig im Dunkeln. Was war denn der Zweck der Wiedererrichtung eines jüdischen Staates, der nach Gottes Gedanken doch kurze Zeit später wieder aufhören würde zu bestehen? Es hatte nur einen Zweck, und der ist äußerst wichtig! Gott bringt einen Überrest in das Land zurück, um diesem kleinen Überrest den Messias vorzustellen ‑ nicht in königlicher Würde, die Er in Zukunft öffentlich besitzen wird, sondern als den leidenden Knecht Jahwes. Das, und das allein ist nach dem Ratschluß Gottes der große Zweck der Rückkehr aus Babel: Ein zeitweiliger Aufenthalt eines jüdischen Volkes in dem verheißenen Land, damit in seiner Mitte der Messias geboren werden konnte. Und das, um einen Teil des Volkes einer letzten und zugleich größten Probe Gottes auszusetzen: ihr Verhalten gegenüber dem Gesalbten Jahwes. Wir wissen, wie das Volk in dieser größten Probe auch am schlimmsten gesündigt hat. Es verwarf seinen Messias und brachte Ihn um. Deshalb wurde das Volk durch das Gericht Gottes erneut vertrieben und Jerusalem erneut verwüstet. Dieses alles geschah während der Herrschaft der Nationen, während der „Zeiten der Nationen“.
Die vier Weltreiche
Nachdem wir nun in aller Kürze versucht haben, den Charakter der Rückkehr aus Babel und den Wiederaufbau Jerusalems zu schildern, können wir uns ein besseres Bild von diesen Ereignissen machen. Vielleicht ist es gut, zuerst noch ein paar Worte über die „Zeiten der Nationen“ zu sagen, in denen Gott die Regierung über die Erde in die Hände des Hauptes der Nationen gelegt hat. Wie bereits erwähnt, erstrecken sich diese „Zeiten“ von der Verwüstung Jerusalems durch Nebukadnezar bis zur Wiederkunft des Messias, wenn Er das Friedensreich aufrichtet und der Macht der Nationen ein Ende bereitet. Diese „Zeiten der Nationen“ können wir nach den vier bekannten aufeinanderfolgenden Weltreichen, nämlich dem babylonischen, dem medo-persischen, dem griechisch‑mazedonischen und dem römischen Weltreich in vier Zeitabschnitte einteilen. Die Zahl vier ist die Zahl der Erde. Man denke an die vier Himmelsrichtungen und die vier Enden der Erde. Sie umfaßt somit die Erde, und das ist passend, wenn wir an die vier Weltreiche denken, die in Gottes Heilsgeschichte alle Völker umfassen, die innerhalb des prophetischen Gesichtskreises liegen. Aber die Zahl vier deutet auch noch auf etwas anderes hin: sie zeigt uns, daß die Weltmacht nicht in den Händen eines Volkes geblieben ist, in einer Dynastie, sondern im Lauf der Jahrhunderte auf vier Völker übergegangen ist. Gott, der die Weltherrschaft in die Hände der Völker gelegt hat, mußte sie dreimal einem anderen Volk übergeben, weil sich eins nach dem anderen dieser Macht unwürdig erwies, weil sie Dem, durch den sie diese Macht empfangen hatten, nicht die entsprechende Ehre gaben, sondern ihren eigenen Weg gingen. Die Untreue und der Ungehorsam, die Israel zu Fall brachten, sind auch den Herrschern über die Nationen nicht fremd geblieben, und darum kommt Gottes Gericht über sie genauso wie über Israel. Darum zeigen die zukünftigen Endszenen Gottes Gericht sowohl über Israel als auch über das letzte Weltreich, das Römische Reich. Beide haben ein gottloses Haupt: den Antichristen bzw. das Tier, die beide zusammen durch den Herrn Jesus bei Seinem Kommen vernichtet werden (Offb 19). Es ist ebenfalls wichtig zu sehen, daß sowohl Israel als auch das Haupt der Nationen (der römische Kaiser in seinem Stellvertreter Pilatus) an dem Tod des Messias schuldig geworden sind. Somit haben beide gemeinsam das Maß ihrer Ungerechtigkeit vollgemacht und werden beide vertilgt werden. Wenn dann sowohl Israel als auch die Nationen in ihrem Auftrag versagt haben, was ist dann die Antwort Gottes? Dann wird Er Selbst einen Mann nach Seinem Herzen erwählen, einen Fürsten aus dem Haus Davids erwecken. Der wird ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört werden wird und dessen Herrschaft keinem anderen Volk überlassen werden wird (Dan 2, 44). Dieser wird herrschen über den Überrest Israels und den Überrest der Nationen.
Die Geschichte der Weltreiche finden wir bei den Propheten, die von der Beiseitesetzung Israels ausgehen und über die Zwischenzeit sprechen, die Zeit, in der die Nationen die Herrschaft über die Erde von Gott empfangen haben, und das sind Daniel, Johannes (in der Offenbarung) und indirekt auch Sacharja. Sie sind somit scharf zu trennen von den Propheten, die während der Zeit weissagten, als Israel noch mehr oder weniger von Gott als Sein Volk anerkannt wurde und als Sein Thron noch in Jerusalem stand. Hier ist der Feind des Volkes vor allem Assur, die Rute Gottes, die Jahwe benutzt, um das abtrünnige Volk zu züchtigen wegen seiner Abgötterei, während zugleich über Assur selbst das Gericht ausgesprochen wird, als es sich ebenfalls gegen Gott erhebt (u. a. durch Nahum). Daniel und Johannes sehen die Herrschaft in den Händen der Nationen, und zwar in den Händen des Hauptes der vier Weltreiche, und das bedingt natürlich ein völlig anderes Verhältnis zu Israel, das hier Lo‑Ammi ist, unter der Regierung des Hauptes der Nationen. (Siehe bezüglich des Unterschiedes dieser Weissagungen vor allem Kapitel 6).
Kurz, aber sehr übersichtlich finden wir die Geschichte der vier Reiche und des darauf folgenden Reiches Christi in Sacharja 6, 1‑8 u. 13. Sie werden dort vorgestellt durch ihre vier Wagen. Der erste Wagen mit den roten Pferden stellt das babylonische Reich dar. Der zweite Wagen mit den schwarzen Pferden (die Meder und Perser) geht aus in das Nordreich, das heißt, daß diese Völker unter Cyrus Chaldäa und Babylon eroberten. Der Wagen mit den weißen Pferden geht ihm nach, das bedeutet, daß das griechisch‑mazedonische Reich unter Alexander dem Großen das gesamte medo‑persische Reich verschlang. Zum Schluß zieht der vierte Wagen mit gefleckten Pferden herauf nach Süden. Die Römer zogen in der Tat viel weiter südlich als die anderen Reiche; aber nicht nur der Süden zog sie, sondern die „starken“ Pferde, mit größerer Macht ausgestattet als jedes andere Reich (obschon sie weniger eine Einheit bildeten, denn sie sind gefleckt ‑ vgl. Dan 2, 41), trachten danach, die Erde zu durchziehen. Das wird ihnen auch zugestanden.
Ausführlicher finden wir die ganze Geschichte in Daniel, natürlich nicht aus rein historischem Blickpunkt betrachtet, sondern nach Gottes Gedanken hinsichtlich dieser Welt. So werden uns in diesen Kapiteln 3 und 4 von dem ersten und größten Haupt der Nationen, Nebukadnezar, gerade seine Selbstüberhebung und sein Hochmut sehr ausführlich geschildert. Er, dem Gott die höchste Ehre auf der Erde hatte zuteilwerden lassen, reißt die Ehre an sich. Glücklicherweise kam er durch das Gericht Gottes wieder zur Besinnung und gab Gott die Ehre, die Ihm gebührt (Dan 4, 34‑37), aber der Schaden war schon entstanden und offenbarte sich in seinen Nachfolgern immer stärker. Sein „Sohn“ (Enkel) Belsazar hat die Kenntnis von dem Gott des Himmels offenbar völlig mißachtet, denn er rühmte „die Götter von Gold und Silber“, so daß Daniel ihn an das Gericht erinnerte, das einst über Nebukadnezar kam, und ihm dann sagte: „Und du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dieses alles gewußt hast. Und du hast dich über den HERRN DES HIMMELS erhoben; . . . Und du hast die Götter von Silber und Gold . . . gerühmt, die nicht sehen und nicht hören und nicht wahrnehmen; aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist, und bei dem alle deine Wege sind, hast du nicht geehrt . . . Gott hat dein Königtum gezählt und macht ihm ein Ende . . . Du bist auf der Waage gewogen und zu leicht erfunden worden . . . Dein Königreich wird zerteilt und den Medern und Persern gegeben“ (Dan 5, 4. 22‑28). In derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet, dadurch, daß Babylon überraschend eingenommen wurde durch Cyrus oder Kores, den Perser (Vers 30). Das ist das Gericht, von dem Sacharja in Kapitel 6, 8 spricht, als der Engel zu ihm sagte: „Siehe, diejenigen, welche nach dem Lande des Nordens ausgezogen sind, lassen meinen Geist Ruhe finden im Lande des Nordens.“ Cyrus war so die Rute Gottes, um Belsazar zu strafen und auf diese Weise den Geist Gottes zur Ruhe zu bringen.
Cyrus ist der einzige Semit unter den Häuptern der Nationen, die uns in der Schrift genannt werden. So ist es auch ‑ menschlich gesprochen ‑ nicht verwunderlich, daß gerade er es war, der den Juden die Erlaubnis gab, in ihr Land zurückzukehren und den Tempel wiederaufzubauen (2. Chron 36; Esra 1). Auch an anderen Stellen spricht die Bibel über diesen Hirten und Gesalbten Jahwes (Jes 44, 28; 45, 1). Die Eroberung des medo‑persischen Reiches durch Alexander wird von Daniel ausführlich geschildert, lange bevor sich diese Dinge ereigneten. In Kapitel 8 finden wir das Emporkommen des dritten Reiches: Der Widder wird durch den aus Westen kommenden Ziegenbock zertreten, wogegen in Kapitel 11 direkter darüber gesprochen wird: „Siehe, es werden noch drei Könige in Persien aufstehen, und der vierte wird größeren Reichtum erlangen als alle; und wenn er durch seinen Reichtum stark geworden ist, wird er alles gegen das Königreich Griechenland aufregen. Und ein tapferer König wird aufstehen, und er wird mit großer Macht herrschen und nach seinem Gutdünken handeln. Und sobald er aufgestanden ist, wird sein Reich zertrümmert und nach den vier Winden des Himmels hin zerteilt werden . . . “ (Verse 2‑4). Das spricht für sich selbst und wird durch die Geschichtsschreibung voll bestätigt. Nach Alexander zerfällt das Reich in vier Teile, und der Prophet geht der Geschichte von zwei Teilen nach, dem syrischen und dem ägyptischen Teil. In Vers 30 kommt zum ersten Mal das vierte Reich zum Vorschein, wenn nämlich die „Schiffe von Kittim“ von dem syrischen Fürsten herkommen. Vers 35 versetzt uns schließlich in die Endzeit; wir kommen darauf noch zu sprechen.
Es würde zu weit außerhalb unseres Themas liegen, wenn wir auf Einzelheiten dieser Geschichte weiter eingehen wollten. Es sei aber noch zum persönlichen Studium die allgemeine Darstellung der vier Reiche empfohlen, nämlich erstens das große Bild in Daniel 2, mit dem Haupt von Gold, der Brust und den Armen von Silber, dem Bauch und den Lenden von Erz, und den Füßen mit den zehn Zehen, teils von Eisen und teils von Ton. Übereinstimmend damit finden wir in Kapitel 7 (doch mehr in ihrem wahren Charakter, so wie Gott sie sieht) die vier Tiere; den Löwen (vgl. Vers 4 mit Kap. 2, 37. 38 und 4, 16), den Bären mit den zwei Seiten (vgl. Vers 5 mit Kap. 2, 39: zwei Arme; und Kap. 8, 3. 4. 20: zwei Hörner), den Pardel mit vier Köpfen) vgl. Vers 6 mit Kap. 2, 39 und 8, 5. 21. 22; 11, 4: vier Hörner) und zum Schluß das schreckliche Tier mit den zehn Hörnern) vgl. Vers 7 mit Kap. 2, 40. 41: zehn Zehen). Dieses letzte Reich ist eines der großen Themen der Offenbarung, wenn wir in Kapitel 13 zehn Hörner und zehn Diademe finden und in Kapitel 17 zehn Hörner, die zehn Könige sind. In allen Beschreibungen ‑ und das ist sehr wichtig ‑ wird deutlich, daß die Geschichte der vier Reiche heute noch nicht abgelaufen ist, sondern daß sie ihr Ende bei dem Wiederkommen Christi finden wird, wenn Er das vierte Reich ‑ und in diesem letzten auch die vorausgegangenen Reiche ‑ völlig vernichtet und Sein Friedensreich aufrichtet. In Daniel 2 ist es der Gott des Himmels, der dieses Königreich aufrichtet, in Daniel 7 der Sohn des Menschen (vgl. Mt 26, 64), in Sacharja 6 der Sproß, der große König‑Priester, in Offenbarung 17 ist es das Lamm, und zum Schluß, in Offenbarung 19, der Treue und Wahrhaftige, das Wort Gottes, der König der Könige und Herr der Herren.
Die Prophezeiung über die siebzig Wochen
Soviel mag zu den vier Reichen genügen. Vor allem geht es um ihre Beziehung zu Israel, das wir während der Heilsgeschichte allen Reichen unterworfen sehen, bis der Überrest Israels bei der Wiederkunft Christi aus der Macht der Nationen erlöst wird und ‑ aufs Neue ‑ der Mittelpunkt der Regierung Gottes auf der Erde wird, nun in der Person des Messias Selbst. Bis zu diesem Augenblick ist Jerusalem seit seinem Fall im Jahr 589 v. Chr. eine Stadt ohne die Herrlichkeit Gottes im Tempel, ja sogar meistens ohne einen Tempel. Und doch ist diese Stadt auch in dieser Zeit ‑ oder besser gesagt: in diesen „Zeiten der Nationen“ ‑ häufig der Gegenstand besonderer Offenbarungen Gottes gewesen. Denn während dieser „Zeiten“ ist der Überrest aus Babel in die Stadt zurückgekehrt und ferner der Messias erschienen, nicht in erster Linie in königlicher Würde, sondern als demütiger Erlöser (Sach 9, 9). In dieser Stadt ist auch die Versammlung entstanden und das erste christliche Zeugnis aufgerichtet worden, von den dramatischen Endereignissen, die in dieser Stadt noch stattfinden werden, bevor „die Zeiten der Nationen erfüllt sein werden“ (Lk 21, 24) und der Messias kommt, ganz zu schweigen.
Das erste dieser Ereignisse, die Rückkehr aus Babel, verdient nun ein eingehenderes Studium. Wir haben bereits betont, daß diese Rückkehr eines sehr kleinen Teiles des Volkes durchaus nicht die wesentliche Erfüllung der Prophezeiungen ist (natürlich mit Ausnahme der Prophezeiung Jeremias über die siebzig Jahre), sondern lediglich eine zeitweilige Wiederherstellung einer kleinen Gruppe von Juden in ihrem Land, um ihnen den Messias vorzustellen, nicht als den König, sondern als den leidenden Knecht Jahwes. Sie ziehen jedoch, wie wir wissen, das Oberhaupt der Nationen (den Römischen Kaiser) ihrem Messias vor (Joh 19, 15), stellen sich unter seine Autorität, erleiden dafür durch ihn das Gericht. Danach wird auch dieser letzte Teil des Volkes bis zum Ende der Zeiten völlig der Herrschaft der Nationen überliefert, die sie selbst erwählt hatten. Diese Grundsätze sind wesentlich für das Verstehen der „Rückkehr“‑Prophezeiungen und der Wiederherstellung des Volkes nach der babylonischen Gefangenschaft. Übrigens war auch diese Wiederherstellung nichtsdestoweniger das Werk Gottes Selbst, denn sie war von Jeremia prophezeit. Da wir nun hinter der Geschichte stehen und das ganze geoffenbarte Wort Gottes besitzen, kennen wir auch die Gründe für diese Rückkehr.
Die Vorbereitung zu dieser Rückkehr aus Babel besteht im Besonderen aus einem Werk Gottes in den Herzen der Juden in Babel, die ihrem Gott treu sind. Dafür haben wir besonders ein Vorbild in der Person des Propheten Daniel, der nicht nur nach der Rückkehr in das Land und damit nach der Erfüllung der Prophezeiungen verlangte, sondern der auch insbesondere über die Schuld und den verdorbenen Zustand des Volkes Leid trug. In Daniel 9 finden wir sein demütiges Schuldbekenntnis. Aber wir sehen da auch, wie Gott jemandem, der in solch großer Not zu Ihm ruft, eine herrliche Antwort gibt, die mit der Prophezeiung über die siebzig Jahrwochen verbunden ist. Die Antwort an diesen vielgeliebten Mann (Dan 9, 23; 10, 11. 19) ist so tief und so wichtig, daß sogar wir diese Antwort noch immer nötig haben, um auch nur etwas von der weiteren Geschichte Jerusalems, ja von der ganzen Prophetie zu verstehen. Daniel ist der begnadigte Mann, der diese Schlüsselprophezeiung empfängt, eine Prophezeiung über die Stadt und den Tempel, die ihm so nahe am Herzen lagen, eine Prophezeiung, die sich bis in die ferne Endzeit erstreckt, bis zu dem Augenblick, da die Ungerechtigkeit des Volkes und der Stadt gesühnt werden. Es ist eine Prophezeiung, die sogar von Dem spricht, durch den Gerechtigkeit über das Volk und die Stadt kommen wird.
Wir wollen uns mit dieser so wichtigen Prophezeiung etwas näher beschäftigen. Sie umfaßt einen Zeitabschnitt von siebzig „Siebenergruppen“, die über das Volk Israel und die Stadt Jerusalem bestimmt sind. Aus dem Zusammenhang und durch einen Vergleich mit 3. Mose 25, 8 ist deutlich, daß mit diesen „Siebenergruppen“ Zeitabschnitte von sieben Jahren gemeint sind. Noch deutlicher wird das, wenn wir sehen, daß mit der letzten halben „Jahrwoche“, wie aus anderen Schriftstellen ersichtlich ist, dreieinhalb Jahre gemeint sind (Dan 7, 25; 12, 7. 11. 12; Offb 11, 2. 3; 12, 6. 14). Um nun diesen Zeitabschnitt von siebzig Jahrwochen (das sind also siebzig mal sieben ‑‑ 490 Jahre) gut zu verstehen, müssen wir fragen, wann dieser Zeitabschnitt beginnt und wann er endet.
a) Der Beginn
In Daniel 9, 25 lesen wir deutlich, daß die siebzig Jahrwochen mit dem Zeitpunkt beginnen, wenn das Wort ausgeht, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen. Wann war dieser Zeitpunkt? Wir lesen in der Bibel, daß Serubbabel nach Palästina zurückkehrte mit dem Ziel und dem Befehl Kores‘, den Tempel wiederaufzubauen, aber wir lesen nichts von einem Befehl zum Wiederaufbau der Stadt. Man begann zwar mit dem Wiederaufbau der Stadt, aber das geschah gegen den Befehl des Königs von Babel (Esra 4). Esra erhielt ebenfalls lediglich einen Befehl, den Tempel wiederaufzubauen. Erst Nehemia bekommt von dem König einen Befehl und die Zustimmung, die Stadt selbst wiederaufzubauen, wie wir in Nehemia 2 lesen. Also ist das 20. Jahr des Königs Artasasta (Neh 2, 1) der Beginn der siebzig Jahrwochen. Das muß ungefähr das Jahr 445 vor Christus gewesen sein.
b) Das Ende
In Daniel 9, 24 lesen wir, daß die siebzig Wochen sich bis zu dem Augenblick erstrecken, da die Übertretung zum Abschluß gebracht, der Sünde ein Ende gemacht und die Ungerechtigkeit gesühnt ist. Es ist deutlich, daß das im Grundsatz auf dem Kreuz von Golgatha geschehen ist. Aber das Volk als Ganzes ist noch nicht mit Gott versöhnt, obwohl viele Juden bereits versöhnt und in die Versammlung aufgenommen sind. Hier geht es jedoch um die Versöhnung des gesamten Volkes, und wir wissen aus Römer 11, 25. 26, daß das erst geschehen wird, wenn die „Vollzahl der Nationen“ eingegangen ist und wenn aus Zion der Erretter kommen und die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden wird, dann wird ganz Israel errettet werden. Darüber hinaus sagt Daniel 9, 24, daß die siebzig Wochen durch das Einführen einer ewigen Gerechtigkeit, durch das Versiegeln (Abschließen) von Gesicht und Propheten (also das Ende und die Erfüllung der Prophetie) und durch die Salbung eines Allerheiligsten (des neuen Heiligtums) abgeschlossen werden. Es steht außer Zweifel, daß diese Rechte allein Bezug haben können auf die Wiederkunft Christi, in dem alle Prophezeiungen ihre Erfüllung finden, der eine ewige Gerechtigkeit auf der Erde stiften und einen neuen Tempel errichten wird. Zusammenfassend sehen wir also, daß die siebzig Wochen mit dem Wort Artasastas, Jerusalem wiederaufzubauen, beginnen und mit der Errichtung des Friedensreiches bei dem Kommen Christi enden.
Hier stoßen wir jedoch auf eine scheinbare Schwierigkeit. Es ist wahr, daß siebzig Wochen 490 Jahre sind. Aber seit Nehemia sind schon viel mehr als 490 Jahre vergangen (nämlich ungefähr 2400 Jahre), und noch immer hat die Wiederkunft Christi nicht stattgefunden. Wenn wir diese siebzig Wochen jedoch etwas näher betrachten, löst sich die Schwierigkeit schnell. Wir sehen nämlich, daß die ersten neunundsechzig Wochen zusammengehören, während die siebzigste Woche einen völlig gesonderten Platz einnimmt. Die allerersten sieben Wochen (49 Jahre) umfassen den Zeitabschnitt der Wiederherstellung Jerusalems; diese Periode wird uns im Buch Nehemia beschrieben und führt uns zu dem Ende der geschichtlichen Linie des Alten Testaments. Die zweiundsechzig Wochen, die dann auf diese sieben Wochen folgen, schlagen die Brücke zum Neuen Testament. Ja, wir lesen, daß die zweiundsechzig Wochen sich bis auf den Messias, den Fürsten, erstrecken, so daß also die ersten neunundsechzig Wochen mit dem Kommen Christi enden („Christus“ heißt Gesalbter und bedeutet dasselbe wie „Messias“).
Danach finden wir eine sehr bemerkenswerte Tatsache. Nach neunundsechzig Wochen wird nämlich die geschichtliche Linie offensichtlich unterbrochen, denn es werden eine Reihe von Ereignissen genannt, die ausdrücklich nach den neunundsechzig Wochen stattfinden, aber zugleich vor der siebzigsten Woche, über die erst in Vers 27 gesprochen wird. Das ist sehr merkwürdig, und wir müssen uns das gut einprägen. Die eigentlichen Ereignisse der Verse 26 und 27 werden später ausführlich besprochen, aber schon jetzt weisen wir auf die Hauptlinie hin, die durch diese Prophezeiungen läuft, damit die wichtige Tatsache des Aufschubs der siebzigsten Woche ganz deutlich wird. Vielleicht denken einige, daß es wohl etwas sonderbar ist, daß diese siebzigste Woche nicht direkt auf die anderen Wochen folgt, sondern für so lange Zeit aufgeschoben wird (bis kurz vor die Wiederkunft Christi). Die Prophetie gibt jedoch selbst die Lösung für diese sonderbare Tatsache. Wir lesen ja in Vers 26, daß nach den neunundsechzig Wochen der Messias weggetan wird. Gerade das ist das Sonderbare dieser Prophezeiung; denn ein Messias‑Fürst, ein gesalbter König, regiert eigentlich über ein Königreich, doch dieser Messias wird weggetan. Deshalb folgt dann auch: “ . . . und wird nichts haben“. Christus war gekommen, um das Friedensreich aufzurichten, doch stattdessen wird Er von Seinen Untergebenen verworfen und muß für eine Zeitlang auf Sein Königreich verzichten und es den Händen der Menschen überlassen. Ohne Königtum und ohne Königreich zu besitzen, wird der Messias durch Sein Volk weggetan (ausgerottet). Deshalb wird die Errichtung des Friedensreiches für lange Zeit aufgeschoben, und damit auch die siebzigste Woche, die ja direkt dem Friedensreich vorausgeht (vgl. Vers 24). Erst in der Endzeit, nach den umwälzenden Ereignissen von Vers 26, die immer noch anhalten, beginnt die siebzigste und letzte Woche, die mit der „Einführung einer ewigen Gerechtigkeit“ abgeschlossen wird, durch die Wiederkunft des ausgerotteten (aber auferstandenen) Messias. Wir lesen deutlich in Vers 26, daß in dieser Zwischenzeit die Stadt und der Tempel verwüstet würden (was auch in der Tat im Jahr 70 n. Chr. durch den römischen Feldherrn Titus geschehen ist) und daß danach Krieg sein würde BIS ANS ENDE. Dann erst, in der Zeit des Endes, beginnt die siebzigste Woche. Woran nun wird man sicher erkennen können, daß die siebzigste Woche beginnt? Weil sie beginnt mit einem Bündnis zwischen dem „er“ aus Vers 27 (das bezieht sich auf den Fürsten des römischen Volkes, der im Jahre nach Christus die Stadt und den Tempel verwüstet hatte) und „den Vielen“ (das ist in Daniel immer Masse des jüdischen Volkes, siehe 11, 33. 39; 12, 3). Wenn also einmal ein Bündnis für sieben Jahre geschlossen werden wird zwischen dem Fürsten des wiederhergestellten Römischen Reiches und dem jüdischen Volk, das in sein Land zurückgekehrt ist, dann werden wir wissen, daß die siebzigste Woche begonnen hat ‑ wenn die Versammlung dann nicht überhaupt schon aufgenommen ist. Für unser weiteres Studium ist es also wichtig zu verstehen, daß die siebzigste Woche noch nicht vorbei ist und noch völlig auf ihre Erfüllung wartet, und zwar aus folgenden Gründen:
a) der Tempel ist noch immer verwüstet,
b) „das Ende“ ist noch nicht gekommen,
c) es gibt noch keinen römischen Fürsten über ein wiederhergestelltes Römisches Reich, also auch noch kein Bündnis mit dem jüdischen Volk,
d) die Sünde des jüdischen Volkes als Volk ist noch nicht abgeschlossen,
e) die ewige Gerechtigkeit über das jüdische Volk noch nicht gekommen,
f) es gibt noch kein wiederhergestelltes Heiligtum, das gesalbt worden wäre.
Die Ereignisse in dieser letzten Jahrwoche umfassen einen großen Teil der Prophezeiungen. Die Besprechung dieser Prophezeiungen müssen wir auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
Der große König
Einige Jahrhunderte, nachdem ein Überrest Israels aus Babel zurückgekehrt ist, sehen wir, wie Gott Seinen Messias dem Volk vorstellt. Aber wir sehen leider auch, daß Jerusalem den König verwirft, wie es bereits von den Propheten vorhergesagt worden war (siehe z. B. Jes 8, 13‑15 und noch ausführlicher Sacharja 11). Die Verdorbenheit der Herzen der Israeliten, ja auch die der Nationen, wird völlig offenbar, als der Messias, der Herr Jesus, außerhalb der Tore Jerusalems von dem Volk in Verschwörung mit den Nationen an das Kreuz genagelt wird und dort stirbt. Dies ist die Erfüllung der Worte aus Daniel 9, wo gesagt wird, daß der Messias ausgerottet werden und nichts haben würde. Aber wir sehen, wie der Messias nach drei Tagen aus dem Grab aufersteht und Seinen Jüngern erscheint, um ihnen zu erklären, warum dies Leiden und Sterben nötig war und wie es die Grundlage für die zukünftige Herrlichkeit sein würde, die Er haben wird, wenn Er zu Seinem Volk zurückkehrt.
In diesem Zusammenhang wird ein letztes Zeugnis durch die Apostel an Jerusalem und an das ganze Volk gerichtet mit der Verheißung, daß, wenn sie jetzt noch den Messias annehmen würden, Er vom Himmel wiederkäme, um das Friedensreich aufzurichten. Erst nachdem dieses Zeugnis abgewiesen ist, wird Jerusalem für lange Zeit aufs neue beiseite gestellt. Das neue Gericht über Israel findet seinen Höhepunkt in einer erneuten Verwüstung Jerusalems. Einst hatten die Juden gerufen: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ (Mt 27, 25).
Damit zogen sie sich das Gericht zu, über das die Propheten bereits gesprochen hatten. An verschiedenen Stellen in den Prophezeiungen sehen wir, wie die Verwerfung des Messias mit der Verwüstung der Stadt und der Zerstreuung der Juden verbunden ist. Wir nannten als Beispiel schon Daniel 9, 26, wo wir beide Tatsachen finden: „Und nach zweiundsechzig Wochen wird der Messias weggetan werden und nichts haben. Und das Volk des kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und das Ende davon wird durch die überströmende Flut sein; und bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen.“ Hier wird über das römische Volk gesprochen (das in Zukunft einen Fürsten haben wird, von dem in Vers 27 die Rede ist), das Jerusalem und den Tempel verwüstet hat, nachdem der Messias ausgerottet war, ohne Sein Königreich in Besitz zu nehmen.
In Sacharja 13 finden wir etwas Ähnliches (Verse 5‑7), doch hier wird der Verwerfung durch die Juden auch das Gegenstück hinzugefügt: die Verwerfung des Hirten von Gott Selbst: „Und er [der Messias] wird sprechen: Ich bin kein Prophet, ich bin ein Mann, der das Land bebaut; denn man [Adam = ein Mensch] hat mich erkauft [als Sklaven] von meiner Jugend an. Und wenn jemand zu ihm spricht: Was sind das für Wunden in deinen Händen? so wird er sagen: Es sind die Wunden, womit ich geschlagen worden bin im Hause derer, die mich lieben. Schwert erwache wider meinen Hirten und wider den Mann, der mein Genosse ist! spricht Jahwe der Heerscharen; schlage den Hirten, und die Herde wird sich zerstreuen. Und ich werde meine Hand den Kleinen zuwenden.“ Christus ist der Mann, der kam, um auf einem verfluchten Erdboden die „Mühsal seiner Seele“ zu erdulden, verworfen vom Hause derer, die Ihn liebten; man ließ Ihm die Nägel durch Seine Hände schlagen. Er wurde von Jahwe in das Gericht gebracht, obwohl Er Sein Genosse war. Die Folgen sind zweifach: eine Zerstreuung der Schafe (wie es im Jahr 70 geschehen ist), und zugleich eine Heilsbotschaft an die „Kleinen“, die Geringen, die „Elenden“ der Herde (Kap. 11, 7), den Überrest aus Israel.
In Micha finden wir wieder neue Aspekte. Sehr bekannt ist natürlich der erste Vers aus Kapitel 5, doch wird er sehr wenig in seinem richtigen Zusammenhang gelesen. Es ist ein Zwischensatz, der über den menschlichen Ursprung (aus Bethlehem) und den göttlichen Ursprung (von Ewigkeit) des Messias spricht, des Herrschers über Israel; dieser Zwischensatz steht in der Mitte eines Abschnittes, der von den Juden und ihrem Messias handelt. Ab Kapitel 4, 14 beginnt nämlich eine Art Anhang (bis Kap. 5, 14), in dem Assur als der große zukünftige Feind Israels im Mittelpunkt steht; in Zukunft wird er gegen den jüdischen Staat ziehen, und es ist Gott Selbst, der in Kapitel 4, 14 zu ihm sagt: „Nun dränge dich zusammen, Tochter des Gedränges.“ Das geschieht auch, denn der Überrest sagt dann: „Man hat eine Belagerung gegen uns gerichtet.“ Der Assyrer wird Jerusalem einschließen, wie wir später sehen werden; aber sofort darauf folgt ein wichtiger Satz, mit dem der Prophet selbst die Ursache alles Elends angibt, das über Jerusalem kommt: „Mit dem Stabe schlagen sie den Richter Israels auf den Backen!“ Die Verwerfung des Richters Israels durch die Juden ist die Ursache des Elends über Jerusalem und das Volk; und nach dem Zwischensatz in Kapitel 5, 1 fährt der Prophet fort: „Darum wird er sie dahingeben bis zur Zeit, da eine Gebärende geboren hat.“ Nach der Verwerfung des Messias wird das Volk sich selbst überlassen und kommt in große Kindesnöte, über die Kapitel 4, 9. 10 spricht; das ist die gegenwärtige Zeit, und vor allem der letzte Teil dieser Haushaltung, die also schließlich mit dem Einfall des Assyrers und der Erlösung durch den Messias endet (Kap. 5, 2b‑5).
Weitere alttestamentliche Zeugnisse
Es gibt noch weitere direkte alttestamentliche Zeugnisse über die Verwüstung Jerusalems, aber die stehen doch immer in Verbindung mit der ersten Verwüstung durch Nebukadnezar. In der prophetischen Linie der Heilsgeschichte werden diese beiden Verwüstungen immer als eine gesehen, und das ist auch gut zu verstehen. Die erste Verwüstung war nämlich ‑ wie bereits erwähnt ‑ noch keine endgültige Verwüstung, denn es gab eine Verheißung der Wiederherstellung nach kurzer Zeit (nämlich nach 70 Jahren), wenn auch diese Wiederherstellung letzten Endes nur einen sehr kleinen Teil der Gefangenen aus Babel betraf. Erst nachdem dieser kleine Teil den Messias verworfen hatte und das Maß der Schuld auf diese Weise vollgemacht war, wurde diese Verwüstung vollständig und endgültig, mit einer Verheißung der Wiederherstellung, die erst in der Endzeit erfüllt werden würde.
Genau wie die „Rückkehrprophezeiungen“ eine teilweise Erfüllung bei der Rückkehr aus Babel hatten und erst vollständig in der Endzeit erfüllt werden, ebenso haben auch die „Verwüstungsprophezeiungen“ mehrere Erfüllungen: teilweise sind sie erfüllt worden im Jahre 589 v. Chr., und vollständig im Jahre 70 n. Chr., während wir daneben noch sehr gut die Prophezeiungen unterscheiden müssen, die von den beiden Belagerungen (nicht völligen Verwüstungen) sprechen, die Jerusalem in naher Zukunft noch durchmachen muß; darüber werden wir noch sprechen. Gute Beispiele solch einer „Verwüstungsprophezeiung“ haben wir in Hesekiel 16 und 22, wo wir natürlich in erster Linie an die Verwüstung durch Nebukadnezar denken müssen; doch in beiden Fällen erstreckt sich die Prophezeiung bis zur Endzeit. In Hesekiel 16 sehen wir, daß es unendlichen Segen für Jerusalem geben wird, denn Jahwe sagt: „Doch ich will gedenken meines Bundes mit dir in den Tagen deiner Jugend, und ich will dir einen ewigen Bund errichten“ (Vers 60); das ist in Zukunft, denn der neue, ewige Bund wird im Friedensreich geschlossen (Jer 31, 32). Aber dann hat die Prophezeiung also auch Bezug auf die Verwüstung im Jahr 70 n. Chr., denn damals wurde das Gericht erst vollständig ausgeführt. Dasselbe sehen wir in Kapitel 22, 1‑22, wo gesagt wird, daß Jerusalem nach dem Gericht über die Stadt den Nationen zum Hohn und allen Ländern zum Spott werden würde (Vers 4), daß die Bewohner unter die Nationen versprengt und in die Länder zerstreut werden würden und durch ihr eigenes Dazutun vor den Augen der Nationen entweiht würden (Verse 15. 16); auch das ist erst vollständig Wirklichkeit geworden nach der Verwüstung im Jahr 70 n. Chr.
Vielleicht finden wir in 5. Mose 28 in der Rede Moses‘ wohl die unmittelbarste und genaueste Beschreibung des Falles Jerusalems im Jahr 70 n. Chr., besonders in den Versen 49‑68. Da sehen wir ein Volk, das von ferne gegen die Städte Israels heraufzieht; herbeifliegend wie ein Adler (den die Römer als Nationalsymbol auf ihrer Flagge hatten) würde es das Volk zugrunde richten. Die Mauern der Städte würden nach einer Belagerung fallen. Das Volk würde so schrecklich bedrängt werden, daß sie die Frucht ihres Leibes essen würden! Sie würden vertilgt werden und zu wenigen übrigbleiben, die unter die Nationen zerstreut werden würden, ohne jemals Ruhe zu finden. Viele von ihnen würden nach Ägypten geführt werden, ohne daß ein Käufer da sein würde. Das alles ist buchstäblich im Jahr 70 n. Chr. und nachher in Erfüllung gegangen.
Die Voraussagen des Herrn
Die ausführlichsten Prophezeiungen über die Zerstörung durch Titus finden wir natürlich im Neuen Testament, und zwar aus dem Mund des Herrn Jesus. Zu allererst nennen wir das Gleichnis vom Hochzeitsmahl in Matthäus 22, 1‑14. Da ist die Rede von einer Stadt, die von ihrem König zum Hochzeitsmahl des Königssohnes eingeladen wird. Die Bürger der Stadt lehnen jedoch die Einladung ab und töten sogar die Knechte des Königs. Was muß der König mit der sündigen Stadt tun? „Der König aber ward zornig und sandte seine Heere aus, brachte jene Mörder um und steckte ihre Stadt in Brand“ (Vers 7). Das ist das Gericht über Jerusalem: die Stadt würde ein Raub der Flammen werden, weil sie die Botschaft des Heils verworfen hatte. In direkter Weise spricht der Herr über dieses Gericht in Lukas 19: „Denn Tage werden über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall um dich aufschütten und dich umzingeln und dich von allen Seiten einengen; und sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen und werden in dir nicht einen Stein auf dem anderen lassen, darum daß du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast“ (Verse 43. 44). Sie begriffen nicht, was sie verachteten und schlugen in ihrer Verdorbenheit das Heil Christi aus. Darum mußte diese Stadt zerstört werden, weil sie die Gnadenzeit nicht erkannt hatte.
Die Zerstörung war also unumgänglich ‑ die Schuld des Volkes war groß und der Herr Selbst hatte es vorausgesagt. Wir müssen jedoch bedenken, daß diese Ankündigung des Gerichts nie und nimmer die Verheißungen ungeschehen machen konnte, die einmal den Erzvätern gegeben worden sind. Gott hatte Seinen Auserwählten diese Verheißungen ohne Bedingungen und in Gnade gegeben. Sie sind der unerschütterliche Grund für die zukünftige Segnung des Volkes (Micha 7, 18‑20). Gerade hierauf gründet Paulus seine Beweisführung in Römer 9‑11. Das Volk Israel konnte unmöglich auf immer von Gott beiseite gestellt worden sein, denn sie sind „hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen. Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11, 28. 29). Deshalb bleibt eine Verheißung des Segens für Israel bestehen, obwohl das Volk nun gefallen und das Heil zu den Nationen gekommen ist. „Denn ich will nicht, Brüder, daß euch dieses Geheimnis unbekannt sei . . . : daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist, BIS die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; und also wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: „Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde““ (Röm 11, 25‑27). Israel ist heutzutage größtenteils verhärtet, aber das bleibt nicht so. Wenn eine Vollzahl aus den Nationen Teil bekommen hat an dem Baum der Verheißung, dann wird das wahre Israel ganz errettet werden. Es bleibt also ein „BIS“, und dieses bedeutungsvolle Wort ist der Schlüssel für den zukünftigen Segen Israels. Auch der Herr Jesus gebraucht dieses Wort, wenn Er über die bevorstehende Verwüstung Jerusalems spricht, um das Ende des Zeitabschnitts der Beiseitestellung Israels zu bezeichnen. So lesen wir in Matthäus 23, 37‑39 (vgl. auch Lk 13, 34. 35): „Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, BIS ihr sprechet: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!““ Diese Prophezeiung umfaßt drei Teile: erstens die Verwerfung durch das Volk; zweitens würde das Haus der Juden (denn es war nicht mehr das Haus Seines Vaters) verwüstet werden und lange Zeit verwüstet bleiben, und drittens würden sie den Herrn nicht mehr sehen. Doch einmal würde das Volk wieder dasselbe ausrufen, was auch bei Seinem Einzug in Jerusalem gerufen wurde (Mt 21, 9), wenn nämlich der Messias wiederkommt und aufs neue Seinen Einzug in Jerusalem hält (Ps 24 und 118). Erst bei diesem Einzug wird wirklich den Völkern Frieden verkündet werden, und Er wird herrschen bis an die Enden der Erde (Sach 9, 9. 10).
Verheißungen der Wiederherstellung
Dieses hoffnungsvolle „BIS“, das das Ende der Verwüstung Jerusalems und der Verwerfung Israels in sich schließt, finden wir genauso im Alten Testament. Wir führen einige Prophezeiungen an, die über die Verwüstung Jerusalems sprechen, verbunden mit der endgültigen Wiederherstellung in der Endzeit. In Jesaja 32 haben wir ab Vers 9 eine eindringliche Ankündigung des bevorstehenden Gerichts, das über Jerusalem kommen würde. Sie endet folgendermaßen: „Denn der Palast ist aufgegeben, verlassen das Getümmel der Stadt; Ophel und Wartturm dienen zu Höhlen auf ewig, zur Freude der Wildesel, zum Weideplatz der Herden ‑ BIS der Geist über uns ausgegossen wird aus der Höhe“ (Verse 14. 15). Diese Einsamkeit der Stadt wird beendet werden, wenn der Heilige Geist auf dieses Volk ausgegossen wird, wie es in Joel 2, 28‑32 und Hesekiel 36, 27 beschrieben ist. Dann wird die herrliche Zeit des Segens beginnen, in der Friede und Gerechtigkeit auf der Erde wohnen und das Volk Gottes ungestört Ruhe genießt. Dasselbe finden wir in Hesekiel 21, 18‑27 wo die Verwüstung durch Nebukadnezar und die durch Titus als eins gesehen werden. Schrecklich würde das Gericht Gottes über diese Stadt sein, und schließlich würde nur ein Trümmerhaufen übrig bleiben. Doch dann lesen wir in Vers 32: „Auch dies wird nicht mehr sein ‑ BIS der kommt, welchem das Recht gehört: dem werde ich’s geben.“ Der Fluch, der auf dieser Stadt ruht, wird erst weggenommen werden, wenn der Messias kommt, der über sie herrschen wird.
Wenn auch nicht das Wort „bis“, so finden wir doch denselben Gedanken in Micha 3, 9 ‑ 4, 5. Wichtige Grundsätze, die wir schon an anderer Stelle kennengelernt haben, werden auch hier wieder nacheinander entfaltet. Zuerst der schreckliche Zustand der Führer des Volkes, die Zion mit Blut und Jerusalem mit Unrecht bauten; Verderbtheit und Scheinheiligkeit beherrschten die Stadt. Was also muß die Antwort Gottes sein? „Darum wird euretwegen Zion als Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zu Trümmerhaufen und der Berg des Hauses zu Waldeshöhen werden“ (Vers 12). Aber ist das das Ende? Nein, denn Kapitel 4 folgt unmittelbar darauf: „Und es wird geschehen AM ENDE DER TAGE, da wird der Berg des Hauses Jahwes feststehen auf dem Gipfel der Berge und erhaben sein über die Hügel.“ Danach folgt die Beschreibung des Friedensreiches (die wir auch aus Jesaja 2 kennen), wenn der Jahwe‑Messias zwischen vielen Völkern richten wird, wenn sie den Krieg nicht mehr lernen werden und das Volk Gottes wandeln wird im Namen Jahwes, seines Gottes, immer und ewig.
Wie können dann so viele Menschen in unseren Tagen sagen, daß es für das irdische Volk Gottes keine Zukunft mehr gibt? Ist nicht die Verheißung an Abraham unbereubar? Ist nicht das Wort des Herrn unerschütterlich? Und kann das Wort des Propheten verändert werden? Das Gegenteil stimmt! Die Christen ‑ und es gibt leider zahllose davon ‑, die sich anmaßen, alle Segnungen Israels übernommen zu haben, verstehen nicht, wie die Lage wirklich ist. Denn entsprechend der unmißverständlichen Prophezeiung in Römer 11 sehen wir zwar, daß von dem Baum der Verheißung einige Zweige abgebrochen worden sind wegen ihres Unglaubens (der verhärtete Teil Israels) und daß wir als wilde Zweige eingepfropft worden sind; doch wenn diese wilden Zweige auch nicht in der Güte Gottes bleiben (was inzwischen tatsächlich der Fall ist!), werden sie Seine Strenge kennenlernen, die Er auch den natürlichen Zweigen zeigte. Sie werden nicht verschont, sondern abgehauen werden, wonach Israel aufs neue eingepfropft wird. Ein Überrest aus Israel und die Vollzahl aus den Nationen wird in der gegenwärtigen Zeit verschont, aber dann wird die Christenheit abgehauen und ganz Israel gerettet. Die Wirklichkeit verläuft manchmal anders, als der Mensch denkt; nicht die Christenheit hat die Zukunft (abgesehen natürlich von der himmlischen Zukunft der wahren Versammlung), sondern Israel. Das ist die wunderbare, unerschütterliche Verheißung der Prophezeiungen.
Jetzt leben wir in der Zeit nach der Verwüstung Jerusalems, in der Zeit, in der die Versammlung gesammelt wird. Das finden wir vorbildlich in Jesaja 8, 14‑18; auch hier sehen wir wieder zuerst das Gericht über die Bewohner Jerusalems (Verse 14. 15) und danach den Menschen Christus als den verworfenen, der auf Jahwe vertraut, mit den Kindern, die Jahwe ihm gegeben hatte, die zu Zeichen in Israel sein würden. Entsprechend dem deutlichen Hinweis in Hebräer 2, 11‑13 handelt es sich hier um die Zeit der Versammlung, in der nur ein Überrest aus Israel errettet wird (Röm 11, 5); und wenn wir diesen Abschnitt aus Hebräer 2 hier heranziehen, dann sehen wir auch hier wieder den Gedanken des erwartungsvollen „Bis“; ja, in den Versen 5‑9 wird uns dargelegt, daß der Herr, der nun inmitten der Versammlung gesehen wird, noch nicht als Derjenige gesehen wird, dem alles unterworfen ist. Aber einmal wird Er, der verworfene Menschensohn aus Psalm 8, der für eine kurze Zeit unter die Engel erniedrigt war, über den zukünftigen Erdkreis herrschen; Gott stellt Ihn über die Werke Seiner Hände.
Zum Schluß gibt uns die Prophezeiung des Herrn in Lukas 21 eine gute Gelegenheit zu einer Zusammenfassung des Besprochenen. Diese übersichtliche Prophezeiung umfaßt die folgenden Ereignisse (Verse 20‑27):
1. Jerusalem wird von Kriegsheeren umzingelt werden; das bedeutet die Verwüstung der Stadt.
2. Der gläubige Überrest in Judäa und Jerusalem wird auf die Berge fliehen.
3. Dann folgen die Tage der Rache über Jerusalem, in Übereinstimmung mit der Prophetie.
4. Die Juden fallen durchs Schwert und werden als Gefangene unter alle Völker weggeführt.
5. Jetzt leben wir in der Zeit, in der Jerusalem von den Nationen zertreten wird.
6. Aber es gibt wieder ein „BIS“! Das Gericht über Jerusalem endet, wenn „die Zeiten der Nationen“ erfüllt sind; wie bereits früher gesagt, ist dies der Zeitabschnitt der Herrschaft der Nationen, im Besonderen der vier Weltreiche. Die gegenwärtige Wiederherstellung des Staates Israel weist darauf hin, daß diese Zeiten der Nationen bald erfüllt sein werden (vgl. Verse 29‑31).
7. Das Ende dieser Zeiten wird durch furchtbare Zeichen gekennzeichnet, durch Angst unter den Völkern und ein Wanken der Kräfte des Himmels.
8. Dann folgt die Wiederkunft des Sohnes des Menschen in Macht und großer Herrlichkeit. Er wird die Weltreiche vernichten und Sein Volk und die Stadt erlösen.
Der rote Faden läuft also von dem Kommen und der Verwerfung des Messias, der darauffolgenden Beiseitestellung Israels und der Verwüstung Jerusalems, der Heilsbotschaft an die Nationen, dem Sammeln der Versammlung (während Jerusalem wüst liegt) bis zur Endzeit: diese letzten Ereignisse, die über Jerusalem kommen, und die Wiederkunft Christi bilden die Themen der folgenden Kapitel.